Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
des Gebäudes. Wieder presste sie den Hund fest an sich und drückte ihm mit der Hand die Schnauze zu, als sie sich hinter eine Reihe Wasserkübel drückte, die neben den Ställen im kühlen Schatten des Gebäudes und eines Kastanienbaumes standen. Es passte, denn sie war schlank; ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass der stämmige Lord Sterling nicht auf die Idee kommen würde, hinter den Kübeln nachzusehen.
Reglos lag sie auf dem feuchten Erdboden; mit einer Hand hielt sie Bitsy die Schnauze zu, die andere hielt sie vor den Mund gepresst. Sie zwang sich, ihren vom schnellen Laufen keuchenden Atem zu beruhigen. Als sie die Schritte der beiden Männer hörte, hielt sie die Luft an.
»Und ich sage dir, dass ich jemanden gesehen habe«, ertönte Lord Sterlings Stimme dicht bei Phillippas Versteck. Er musste beängstigend nahe gekommen sein.
Es folgte eine Pause, gedämpftes Schlurfen. Ein Schauder der Angst prickelte Phillippa über die Haut.
Die Schritte kamen näher.
Und dann eine Stimme, die sie nicht kannte. Aber wie sich herausstellte, eine Stimme der Vernunft.
»Komm schon«, sagte der Fremde, »man wird dich vermissen.«
Die Schritte entfernten sich. Trotzdem dauerte es noch eine Ewigkeit, bis Phillippa es wagte, sich zu bewegen. Als sie es dann tat und den Kopf zentimeterweise über den Rand der Kübel streckte und die großen, sich zurückziehenden Gestalten von Lord Sterling und dem Fremden erblickte, stieß sie einen Seufzer der Erleichterung aus, der wahrhaft tief aus ihrem Herzen kam.
Sobald die Männer verschwunden waren, richtete sie sich auf. Und hatte nur noch einen verzweifelten Gedanken im Kopf: Sie musste Marcus finden.
Zuerst musste sie sich natürlich umziehen.
Denn das Ausgehkleid im griechischen Stil von Madame Le Trois war vollkommen ruiniert. Es war unmöglich, sich damit in der Öffentlichkeit zu zeigen, ohne Fragen zu provozieren und ihren Ruf ernstlich zu beschädigen.
Durch den Dienstboteneingang schlich Phillippa sich in das Anwesen der Hampshires und wurde sofort von einem Diener über eine Hintertreppe zu einer Tür geführt, die auf den Flur führte, wo ihr Zimmer lag. Bei einem Blick in den Spiegel stellte sie fest, dass nicht nur ihr Kleid, sondern auch ihre Frisur sich in einem desolaten Zustand befand. Obwohl ihre Zofe mit größter Geschwindigkeit arbeitete, brauchte es fast eine Dreiviertelstunde, um Phillippa wieder präsentabel zu machen.
Bis zu diesem Zeitpunkt erging Phillippa sich in den wildesten Vermutungen und Fragen. Wer war der Fremde? Was hatte sich in dem Tornister befunden? Falls Marcus recht hatte und Lord Sterling in die Sache verstrickt war – aus welchem Grund?
In der Sekunde, in der die Zofe letzte Hand an die Frisur gelegt hatte, sprang Phillippa auf und stürmte zur Tür hinaus.
Sie hatte gesehen, dass Marcus sich vom Rennen entfernt hatte. Aber warum? Und wo sollte sie anfangen, nach ihm zu suchen?
Nach kurzem Überlegen entschied sie, in seinem Zimmer mit der Suche zu beginnen.
Hampshire House war in der elisabethanischen Epoche erbaut und seit seiner Entstehung mehrfach umgebaut und umgestaltet worden. Ungeachtet der vorgenommenen Veränderungen wies das Haus nach wie vor einen Grundriss in Form eines großen E auf – ein Tribut an die Jungfräuliche Königin. Die Schlafzimmer lagen im ersten und zweiten Stockwerk an den Außenseiten der Querbalken des E – also im West- und Ostflügel – , die Zimmer der Familie dagegen im mittleren und die Empfangszimmer (eingeschlossen der Speise- und Ballsaal) in der langen Grundlinie der E-Form.
Phillippas Zimmer lagen im Ostflügel und Marcus’ im westlichen Flügel, wie sie wusste. Aber wo dort, das war noch die Frage.
Die Antwort ist doch ganz einfach, sagte sie sich. Der Grundlinie des Hauses konnte man leicht folgen, und sobald sie sich im Westflügel befand, würde sie … nun, darüber würde sie nachdenken, wenn sie sich in dem Teil des Hauses befand.
Aber als Phillippa mit raschen Schritten durch die Flure eilte, sich hier nach links und dort nach rechts wandte, verlor sie im Irrgarten der Gänge bald den Überblick.
»Wo um alles in der Welt bin ich hier?«, fragte sie sich, stützte die Hände in die Hüften und machte sich daran, ihre Schritte zurückzuverfolgen.
Auf dem Weg zurück durch die mahagonigetäfelten Flure zählte Phillippa die Türen, als sie unvermutet eine gelangweilte Stimme hörte.
»Mein Bruder behauptet, Ihr Gedächtnis sei tadellos. Für Ihren
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