Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
war, kehrte Phillippa zu Marcus zurück. Byrne half ihm gerade aus seiner Abendgarderobe.
Marcus atmete zischend aus, als ihm der blutgetränkte Ärmel seines Rockes abgestreift wurde und das Leinenhemd zum Vorschein kam, das einst strahlend weiß gewesen war; Arm und Rücken waren jetzt grellrot.
»Er hat viel Blut verloren«, sagte Phillippa ernst.
»Er wird noch viel mehr verlieren, wenn wir ihm die Kugel aus der Schulter holen«, antwortete Byrne.
»Aber Sie wissen doch, was Sie zu tun haben, oder?«, hakte Phillippa besorgt nach. »Sie operieren hoffentlich nicht zum ersten Mal?«
»Ich habe es bei ihm schon mal gemacht. Vermutlich freut er sich darauf, es mir jetzt heimzuzahlen«, erwiderte Marcus.
Byrne lachte schnaubend, wurde aber gleich wieder ernst. »Jetzt verraten Sie mir, wer das angerichtet hat«, sagte er und wandte seinen eindringlichen Blick auf Phillippa.
»Ich … ich weiß es nicht«, stammelte Phillippa. »Ich bin ihm noch nie zuvor begegnet. Seinen Namen weiß ich auch nicht.«
»Beschreiben Sie ihn«, befahl Byrne, und Phillippa gehorchte.
»Kleiner, dünn, höchstens fünfundsechzig Kilo. Heute Nachmittag war er wie ein Farmer gekleidet. Strohhut, graubraune Hosen aus schrecklich grobem Zwirn, da bin ich ganz sicher«, sie hielt inne, als Byrne sich ungeduldig räusperte, »aber heute Abend«, fuhr sie dann fort, »konnte ich … konnte ich nicht erkennen, was er anhatte. Dunkle Farben. Vielleicht Abendkleidung.«
»Vielleicht?«, fragte Byrne harsch.
»Vielleicht auch nicht«, gestand sie ein.
»Byrne, er war es«, mischte Marcus sich ein, »er hatte die Pistolen.«
»Gut.« Byrne nickte und marschierte auf und ab, während er sich die Sache durch den Kopf gehen ließ. »Glaubst du, dass er sich hier noch irgendwo steckt?«
Marcus schwieg. Dann nickte er.
»Aber wo?«, presste Byrne mit zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Er könnte … falls er irgendetwas haben will, das sich im Haus befindet, dann müsste er in diesem Moment auf der Suche danach sein. Aber ich glaube eher, dass er sich unter das Durcheinander gemischt hat, das bei den Ställen herrscht. Sich wieder hinter seiner Maske versteckt, welche auch immer das sein mag.«
Byrne hörte auf, hin und her zu marschieren, und trommelte mit den Fingern auf dem Stock herum. »Die Zeit ist das Entscheidende«, sagte er.
»Und was ist mit Marcus?«, rief Phillippa. »Er braucht Ihre Hilfe.«
Die beiden Brüder verständigten sich mit einem stummen Blick.
»Bist du sicher, dass es die Schulter ist?«, fragte Byrne.
»Ja«, antwortete Marcus mit ernster Stimme, »wir kommen zurecht.«
Byrne warf einen schnellen Blick auf Phillippa, musterte sie mit aufrichtiger Anerkennung. »Meine Vergeltung hebe ich mir für ein anderes Mal auf.«
Dann humpelte er zur Tür hinaus und ließ Phillippa mit Marcus allein.
»Er … er operiert die Kugel nicht heraus?«, fragte sie wie benommen.
»Nein«, gab Marcus zurück, »das machst du.«
Zum ersten Mal an diesem Abend hatte Phillippa das Gefühl, dass ihre Beine den Dienst verweigerten, so erschüttert war sie.
»Hast du … wirklich das gesagt, was ich glaube, gehört zu haben?«
»Ja.« Seine Stimme klang resolut.
Lieber Himmel.
»Wir sollten uns an die Arbeit machen.« Seufzend setzte er sich auf dem Bett zurecht. »Aber eines nach dem anderen. Du musst mir zuerst das Hemd ausziehen.«
Ich schaffe das, beschloss Phillippa. Warum auch nicht? Ärzte taten es schließlich ständig. Und Hebammen holten Kinder auf die Welt, du liebe Güte. Im Vergleich dazu war die Entfernung einer kleinen Kugel aus einer Schulter nichts anderes, als würde man einen Splitter entfernen. Ihre Erfahrungen mit Blut hielten sich zwar in Grenzen, aber als Alistair im Sterben gelegen hatte, hatte sie ihm über die Stirn gestrichen, hatte sie ihm gekühlt …
Sie würde es schaffen. Sie durfte sich nicht feige zurückziehen. Sie musste lediglich effizient und geschäftsmäßig an die Sache herangehen.
Mit einem stummen Stoßgebet ging Phillippa zu Marcus und zupfte an seinem Krawattenknoten, öffnete ihn mit ruhigen Fingern.
Marcus seufzte erleichtert, als sie das einengende Kleidungsstück aufs Bett warf.
»Das Ding … hat mir schon den ganzen Abend den Atem geraubt.« Er sog die Luft tief ein, während er die Knöpfe an seinem Kragen mit dem gesunden Arm aufknöpfte.
»Es ist bestimmt nicht leicht, mit einer Krawatte um den Hals einen Verbrecher zu verfolgen«, bemerkte Phillippa und
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