Ein Spion in erlauchter Gesellschaft (German Edition)
nicht nach diesem Leben. Nichts wäre ihm lieber, als alles aus der Hand zu legen und in den Ruhestand zu treten.
Aber just in dem Moment, in dem sie geglaubt hatten, sie könnten endlich aufhören, sich misstrauisch umzublicken …
Johnny Dicks hatte ihm eine Nachricht zukommen lassen und darin mitgeteilt, dass die Franzosen sich wieder einschlichen. Und dass er den Mann diesmal vielleicht besser beschreiben konnte.
Marcus brauchte eine Bestätigung. Er musste wissen, mit wem er es zu tun hatte, und er brauchte die Rückversicherung durch seine Kontaktperson, dass die Informationen belastbar waren. Er hatte sich auf diesem dünnen Ast so weit vorgewagt, dass er sich keinesfalls irren durfte. Falls er es doch tat, würde er die Balance verlieren. Daher stand er nun hier, nachdem er Johnny Dicks informiert hatte, sich im Bull and Whisker mit ihm zu treffen. Er wartete auf das entscheidende Signal. Wartete. Und wartete.
Er schüttelte den Kopf und streckte seine steifen Beine. Aus den Augenwinkeln fing er plötzlich eine flüchtige Bewegung in einem Fenster drüben auf der anderen Straßenseite auf. Es war nicht das Signal, auf das er wartete – die Lampe im Fenster – , aber trotzdem jagte es ihm einen Schauder über den Rücken.
Im Laufschritt eilte Marcus quer über die Gasse, wich Lastkarren und Betrunkenen aus, und betrat das Gebäude auf der anderen Seite. Während er die knarrenden, schmalen Stufen in das zweite Stockwerk hinaufstieg, zog er den Dolch hervor, den er in seinem langen Mantel versteckt hatte. Er näherte sich der Tür zu dem Zimmer, das Johnny Dicks gemietet hatte … sein Magen verkrampfte sich vor Grausen, als er die Tür nicht nur geöffnet vorfand, sondern den Riegel zerbrochen auf dem Boden liegen sah.
Geschmeidig und vollkommen geräuschlos glitt Marcus in das enge Zimmer. Er achtete sorgsam darauf, mit dem Rücken an der Wand zu bleiben, und umklammerte seinen Dolch, während er in die Ecken lugte und nichts fand.
Nichts – außer Johnny Dicks.
Johnny war ein kräftiger Kerl, nicht älter als dreißig, der durchaus danach aussah, dass er sich einen Zusatzverdienst damit sicherte, anderen Männern in Amateurkämpfen die Zähne auszuschlagen. Was er manchmal auch tat. Die Zeit in der Armee hatte er genossen und sich ein Extrapolster rund um den Bauch zugelegt – die Auswirkungen der kräftigen Mahlzeiten und der Tatsache, dass er nicht mehr so viel marschieren musste. Er war immer ein leutseliger Kerl gewesen, der ein gutes Auge besaß und mehr Grips im Kopf hatte als so mancher Offizier.
Aber jetzt lag er merkwürdig gekrümmt auf der schmutzigen Pritsche. Seine Finger waren blutig und zerfleischt, Blut sammelte sich unter ihm, rann aus einem langen, sauberen Schnitt quer durch den Hals.
Marcus starrte eine gefühlte Ewigkeit in diese kalten, leblosen Augen, die offen geblieben waren und voller Entsetzen auf das blickten, was ihm ein Ende bereitet hatte.
»Verflucht noch mal«, flüsterte Marcus und senkte den Dolch.
Das Geräusch auf der Treppe setzte Marcus schlagartig in Bewegung. Jemand rannte die Treppe hinunter. Schnell und leichtfüßig. Marcus schoss auf den Flur hinaus. Er schaute hoch, dann nach unten, erhaschte aber nicht mehr als den flüchtigen Blick auf einen verdreckten Umhang, bevor dessen Träger durch die Tür ins Freie verschwand.
Marcus stürzte förmlich die Treppe hinunter, nahm vier Stufen auf einmal und befürchtete sogar, die klapprige Treppe könnte unter seinen kraftvollen Schritten zerbrechen. In Rekordzeit kam er unten an und rannte durch die Eingangstür ins Freie.
Draußen schaute er nach links und nach rechts, suchte aber vergeblich nach der Gestalt mit dem schmutzigen Umhang. Mehr als etwa ein Dutzend Männerrücken und einige Frauen waren nicht zu sehen.
»Pass auf, du Wanze!«, schrie ein Mann mit breiter Brust, sodass Marcus erschrocken zur Seite sprang, bevor er von einem Pferdefuhrwerk überrollt wurde, das einen Fischkarren zog. Das Pferd wieherte und stieg auf die Hinterbeine. Der Kutscher verfluchte ihn lautstark.
»Pass auf, du blinder Stubenhocker! Hau ab!«
»Tut mir leid, tut mir leid«, murmelte Marcus und zog sich zurück.
Verdammt. Verflucht und zugenäht.
Johnny Dicks war tot. Sein wichtigster Kontaktmann. Und der Mörder war entkommen.
Obwohl es sich als nutzlos erweisen würde, ging Marcus zur Wache. Seine Verbindung zur Regierung erwähnte er nicht, doch er wollte es irgendwo protokolliert wissen, dass Johnny Dicks
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