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Ein Stern fliegt vorbei

Ein Stern fliegt vorbei

Titel: Ein Stern fliegt vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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Iwanowna Shelesnowa, häufiger Passagier dieser Rakete, kannte die einzelnen Manöver, die das Raumschiff jetzt durchlaufen mußte, schon bis in die kleinste Wendung. Sie spürte an für andere kaum wahrnehmbaren Veränderungen, was vor sich ging: Die Sessel drehten sich zur Seite, und für einen Augenblick fühlte man sich schwerer – die Drehung des Ringkörpers wurde abgebremst. Dann wurde man leichter und leichter, bis das Gewicht fast völlig verschwunden war – nun war die Rotation auf die Drehzahl der Nabe gesenkt, und damit war die Zentrifugalkraft fast verschwunden. Das Raumschiff lag vor der Nabe der Station, die Trossen wurden hinübergeschossen. Jetzt ein leiser Ruck – sie wurden in den Raketenbahnhof hineingezogen. Wieder ein solcher Ruck – sie lagen fest im Bahnhof, und auf der Signaltafel für die Fahrgäste leuchteten die Worte auf: Bitte die Gurte lösen und in der Reihenfolge der Platznummern aussteigen.
    Professor Me I-ren, die Erste Assistentin von Duncan Holiday, empfing Nadja kühl. „Darf ich Sie zu mir bitten? Professor Holiday läßt sich entschuldigen, er leitet zur Zeit ein Experiment. Auf Fragen, die unsere Arbeit betreffen, kann ich Ihnen sicherlich schon einige Auskünfte geben, bis Professor Holiday frei ist.“
    Nadja wunderte sich nicht über diesen Empfang. Sie war gegenüber Me I-ren noch nie über formelle Höflichkeit hinausgekommen. Es gibt eben Antipathien, dachte sie. Also schicken wir uns darein – jedermanns Freund ist niemands Freund.
    Sie waren schweigend im Paternoster zum Ring hinabgefahren und hatten Me I-rens Zimmer aufgesucht. Die zierliche Chinesin servierte dem Gast Tee in den zarten, zerbrechlichen Porzellanschalen ihrer Heimat.
    „Wir haben sehr oft die Ehre, Sie hier als Gast zu begrüßen“, sagte Me I-ren nach den ersten, stumm genossenen Schlucken. Sie sagte es beiläufig, nicht als Frage, kaum als Feststellung; scheinbar nur als Einleitung zu einem Gespräch. Aber Nadja spürte doch, daß irgendwo hinter diesen Worten eine kleine Provokation lauerte. Während sie sich zerstreut gab und mit Belanglosigkeiten eine schleppende Unterhaltung aufrechterhielt, horchte sie in Gedanken diesem ersten Satz nach.
    Komme ich wirklich zu oft hierher? Natürlich, für sie mag es so aussehen, sie kann ja nicht wissen, daß meine Aufgabe zusammenhängt mit Duncans Arbeit. Aber komme ich nur deswegen so oft hierher, wirklich? Ich denke oft an Duncan, ist ja klar, ich brauche seinen Rat, er kennt den Raum wie seine Westentasche, hat Erfahrungen…
    „Ach wissen Sie, das Herumreisen gehört nun mal zu meiner Arbeit…“ Arbeit, Arbeit, es ist ja nur recht und billig, wenn die Arbeit Freude macht, aber ist es nicht etwas mehr als einfache Freude, was ich hier immer empfinde? Ach, das ist ja alles Unfug, meine Beziehungen zu Duncan sind klar: Kameradschaft, sonst ist nichts mehr, nach allem, und wahrscheinlich steckt gar nichts Besonderes hinter dem, was sie sagt, was soll sie auch sonst sagen? Bin ich vielleicht an der Stelle besonders empfindlich? Aber das spräche ja wieder dafür, und tatsächlich, ich bin doch hier häufiger als in den Objekten, die direkt zu meinem Bereich gehören, bei Loto Gemba oder etwa bei Hellrath, aber das kommt daher, daß Duncans Arbeit für meine Aufgabe, für die Überwindung der kosmischen Gefahr, wichtiger ist als die der anderen.
    Aber im gleichen Augenblick, als sie das dachte, stellte sie erschrocken fest, daß sie es Duncan gegenüber nicht über die Lippen bringen würde, und sie wußte auch sofort warum: Gerade Leuten, die zu stolz und zu selbstbewußt sind, andern auch nur die kleinste Unwahrheit zu sagen, geschieht es in gewissen Dingen sehr leicht, daß sie sich selbst belügen. Plötzlich war ihr klar, daß sie sich selbst belogen hatte. Plötzlich war ihr klar, daß sie es als angenehm empfunden hatte, alles in der Schwebe zu lassen, was Duncan und sie betraf, in einer schönen und ein klein wenig quälenden Ungewißheit, in der gleichsam die Zeit stillsteht und die Hoffnungen wachsen können.
    Sie entsann sich plötzlich vieler kleiner Begebenheiten, die scharfen Beobachtern wie Me I-ren längst gezeigt haben mußten, was sie vor sich selbst noch verborgen gehalten hatte: etwa wie sie sich bei ihren Besuchen stets zu stundenlangen Gesprächen mit Duncan zurückgezogen hatte, unter irgendeinem Vorwand, sich selbst gegenüber aber unter dem Vorwand der notwendigen Geheimhaltung; oder wie sie jedesmal von tiefer Erregung

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