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Ein Stern fliegt vorbei

Ein Stern fliegt vorbei

Titel: Ein Stern fliegt vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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erfaßt wurde, wenn sie ihm nach längerer Zeit wieder gegenüberstand, wie sie sekundenlang zögerte vor dem Handschlag, und wie sie ebenso zögerte, seine Hand wieder loszulassen.
    Nun war ihr der Sinn von Me I-rens Bemerkung klar und auch, was sie dazu getrieben hatte. Aber Duncan – wie stand er dazu? Er mußte das doch bemerkt haben. Lachte er am Ende darüber? Allein die Vorstellung schnitt ihr in die Seele, aber dann hob ein fröhlicher Gedanke den Schmerz auf: In dem Fall würde I-ren wohl kaum auf solche Weise…
    Er war nicht sehr logisch, dieser Gedanke, aber er hatte einen anderen Vorzug. Er brachte sie so weit in die Wirklichkeit zurück, daß sie gerade noch mitbekam, daß I-ren eben eine Frage an sie gerichtet hatte.
    „Entschuldigen Sie“, sagte Nadja, „ich war eben etwas unaufmerksam – würden Sie Ihre Frage bitte wiederholen?“
    „Oh, nichts von Bedeutung“, entgegnete I-ren, „mir schien nur, Sie sind enttäuscht, daß nicht Professor Holiday Sie empfangen hat.“
    Die höfliche Feindschaft war diesmal unüberhörbar. „Halten meine Besuche Ihre Arbeit auf?“ fragte Nadja direkt.
    Me I-ren zog die Schultern zusammen, als ob sie fröstele. Sie wirkte noch zierlicher dadurch, aber ihre Stimme blieb klar und fest.
    „Sie wissen, daß das nicht der Fall ist. Wenigstens nicht direkt.“ Sie schwieg herausfordernd.
    Nadja zögerte. Sollte sie hier ein privates Gefecht liefern in einer Zeit, da… Ach, Unsinn, dachte sie, verschleppte Konflikte verbreiten Fäulnis – wenn Kampf, dann Kampf.
    „Aber indirekt ist das der Fall?“ fragte sie.
    Zum erstenmal wich auf I-rens Gesicht das höfliche Lächeln einem entschlossenen Ausdruck. „In einem wissenschaftlichen Kollektiv darf es in der Arbeit keine Spannungen geben, das wissen Sie so gut wie ich. Und auch nicht außerhalb der Arbeit.“
    „Und ich – verursache solche Spannungen?“ fragte Nadja.
    Me I-ren stand auf und ging, Nadja den Rücken zukehrend, in die entfernteste Ecke des kleinen Raums, als wolle sie eine größere Distanz zwischen sich und die Rivalin legen. Dort drehte sie sich um und sah Nadja prüfend ins Gesicht; dann zuckten ihre Schultern ganz leicht, als gebe sie sich innerlich einen Ruck, und sie sagte mit angestrengter Ruhe: „Sie haben ihn damals allein gelassen. Sie haben kein Recht mehr auf ihn.“
    Eine Weile herrschte feindseliges Schweigen. Nadja konnte darauf nichts entgegnen – sie war sich ja selbst nicht klar darüber. Dann mit einem Mal – sie wußte selbst nicht wieso – kam ihr die ganze Situation irrsinnig komisch vor. Sie hob die Arme. „Und was nun weiter? Wollen wir uns an den Haaren ziehen und die Gesichter zerkratzen?“ In das Schweigen hinein summte die Tür. Nadja gelang es noch, eine verschwörerische Geste der Verschwiegenheit zu machen, und I-ren nickte unmerklich. Dann trat Duncan ein. Er war so von dem gerade beendeten Versuch erfüllt, daß er die merkwürdige Atmosphäre nicht spürte. Er begrüßte Nadja, als hätten sie sich erst gestern abend getrennt, ließ sich in einen Sessel fallen und berichtete mit lauter, lachender Stimme:
    „Die Materie spielt mit uns Blindekuh. Wir tappen herum und schlagen zu und erwischen sie nicht – es ist großartig! Jede Woche entdecken wir ein paar neue Effekte, jeder könnte davon ein ganzes Institut auf Jahre hinaus beschäftigen, aber an die Fusion selbst kommen wir nicht heran. Ein prachtvolles Spiel, und vor allem, es macht Spaß: Immer, wenn wir denken, wir hätten ein Zipfelchen der Gesetzmäßigkeiten erfaßt – bums, der nächste Versuch widerlegt uns.“
    Er wandte sich zu Nadja um. „Was sich so geschickt zu verstecken weiß, daran muß doch etwas sein, das zu finden muß sich doch lohnen, was?“
    Nadja sah ihn nachdenklich an, und da sie nicht gleich antwortete, benutzte I-ren die Gelegenheit zu sagen: „Du mußt dich deutlicher ausdrücken, Nadja Shelesnowa wird unsern Jargon vielleicht nicht verstehen.“ Und zu Nadja, absichtlich erklärend, was gar keiner Erklärung bedurfte: „Er hat sich so in die Arbeit verbissen, daß er die Materie schon als Gegenspieler personifiziert.“
    „Dann hab ich es ja richtig verstanden“, sagte Nadja ruhig. Normalerweise hätte Duncan bei seinem entwickelten Sinn für Humor den kurzen Wortwechsel sicherlich bemerkt, aber er war so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er für alles andere taub und blind war.
    „Du mußt mir Doktor Tullier ablassen“, sagte er zu Nadja. „Paß auf, die

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