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Ein Stern fliegt vorbei

Ein Stern fliegt vorbei

Titel: Ein Stern fliegt vorbei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Tuschel
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sprunghaft an. Auf der WEGA gab es einen Selbstmordversuch – unerhörtes Vorkommnis unter Kosmonauten –, der nur deshalb nicht gelang, weil Kapitän Schtscherbin eine Maßnahme hatte durchführen lassen, die nun auch die anderen Raumschiffe übernahmen: Die allein wohnenden Besatzungsmitglieder wurden jeweils zu zweit oder dritt in ein gemeinsames Zimmer quartiert. Hinterher kam allen dieser Gedanke so einfach und selbstverständlich vor, daß sie sich wunderten, nicht selbst darauf gekommen zu sein; es war ja die direkte, fast primitiv wörtliche Anwendung jenes Engerzusammenrückens, das in der Expeditionsversammlung eine so große Rolle gespielt hatte.
    Einen, wenn auch kleinen Lichtblick gab es jedoch: Es war Sabine gelungen, den Zustand von Kat Potter zu bessern. Kat war zwar immer noch in einem Grade apathisch, daß ihr Anblick ihre Freunde jammerte, aber sie blieb die normale Zeit wach und war auch zu gewissen körperlichen Aktivitäten wie Gymnastik zu bewegen. Erreicht worden war das mit Hilfe von Elektroschocks und – merkwürdigerweise – mit Musik; ein Umstand, auf den man zufällig gekommen war und den niemand zu deuten wußte, wenn auch Sabine und ebenso Lutz, mit dem sie sich immer öfter beriet, irgendwelche Zusammenhänge mit jener Malerei-Affäre auf der STARTSTUFE II vermuteten.
    Aber dieser Lichtblick änderte nichts daran, daß die Lage sich bedrohlich zuspitzte: Von den 96 Expeditionsteilnehmern waren jetzt 29 akut krank. Die allgemeine Arbeitszeit war bereits um die Hälfte verlängert worden, und wenn die Krankenzahl weiter stiege, würden lebenswichtige Funktionen der Raumschiffe blockiert werden.
    Der Kommandant Kapitän Heinrich Hellrath oder auch Henner (wie ihn seine Freunde nannten) oder der Alte (wie Kommandanten, Chefs und andere Leiter seit Urzeiten genannt werden) – Henner also war überall, tauchte überall an Bord der SIRIUS auf, kontrollierte, prüfte, maß und rechnete, führte abschnittsweise Übungsspiele durch, disponierte Menschen und Arbeiten um, lobte selten und kritisierte häufig, war dabei gleichbleibend sachlich und unpersönlich und schien weder Abspannung noch Müdigkeit zu kennen. Nur seine Frau und vielleicht noch Lutz wußten, daß er abends wie ausgebrannt war und im Sitzen einschlief und daß er sich immer wieder hochriß mit dem einzigen Gedanken, die Rückkehr der Expedition zu sichern. Irgendwo in einem versteckten Winkel seiner Persönlichkeit spürte er selbst den Verdacht, daß er die Entwicklung nicht mehr in der Hand hatte, daß nicht mehr er die Dinge, sondern die Dinge ihn trieben; aber er ließ sich nicht die Zeit, auf diese leise Stimme zu horchen und den Verdacht zur Kenntnis zu nehmen oder gar ihm nachzugehen; der Gedanke, man könne von niemand wissen, ob er nicht krank sei und dies und jenes vernachlässigt habe, jagte ihn immer wieder auf, und nur seine strengen Grundsätze hinderten ihn daran, mißtrauisch oder gar argwöhnisch zu werden. Diese rastlose Tätigkeit war sein Alibi vor sich selbst. Er tat alles, was er tun konnte, ohne sich und andere zu schonen.
    Er versperrte sich damit den Blick auf die Tatsache, daß er die wichtigste Fähigkeit eines echten Leiters verloren hatte: sich auf die Fähigkeiten anderer zu stützen, die Bedingungen zu schaffen, unter denen sie sich entfalten konnten, ihre Erkenntnisse zusammenzufassen und zu verallgemeinern und aller Arbeit Ziel und Richtung anzugeben. Während er auf einem Gebiet – Aufrechterhaltung der Manövrierfähigkeit und Rückkehr zur Erde – sich täglich in die Arbeit anderer einmischte, Aufgaben übernahm, die die Aufgaben anderer waren, immer getrieben von der Unruhe, es könnte etwas Wichtiges vergessen worden sein – während er also auf einem Gebiet zwar Notwendiges, aber eben des Nötigen zuviel tat, gab es ganze Gebiete, um die er sich überhaupt nicht kümmerte: Die Forschungsaufgaben zum Beispiel und die Qualifizierung, die sowieso eingeschränkt worden waren, und vor allem die Krankheit. Deren Erforschung und Bekämpfung überließ er ganz und gar seiner Frau, und alles, was damit im Zusammenhang stand, lag ihm so fern, daß er nicht einmal auf den Gedanken kam, er selbst könne ja auch krank werden. Er war eigentlich nur noch Kapitän der SIRIUS. Er füllte die Funktion des Kommandanten der Expedition nicht mehr tatsächlich aus, oder richtiger: Er begriff sie nicht mehr.
    Jeden Versuch Sabines, die Rede auf die grundsätzlichen Probleme der Krankheit zu bringen,

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