Ein Stern fliegt vorbei
kommen, wo sie ihre inneren Widerstände dann leichter überwinden können.
Jetzt griff er zu, öffnete den Schrank, nahm das Röhrchen heraus, zog den Verschluß ab und verharrte unbeweglich. Sabine wußte, daß sein von der Sucht geschwächtes Gehirn jetzt unendlich langsam die Tatsache zu verarbeiten suchte, daß dieses Röhrchen leer war.
„Sie sehen richtig, es ist nichts mehr da“, sagte sie, erhob sich und trat vor die Tür, um ihm den Ausgang zu versperren. Der Pilot drehte sich langsam um. Sein Gesicht war verzerrt. Er senkte den Kopf und machte einen unsicheren Schritt auf Sabine zu.
„Halt! Bleiben Sie stehen!“ Ihre Gedanken arbeiteten schnell und zuverlässig. Aus diesem Kopfsenken, aus diesen Schritten konnte der Angriff kommen, sie war ja gerüstet, aber vielleicht gelang es ihr, den Zusammenbruch ohne Kampf zu erreichen.
„Es gibt nichts mehr“, sagte sie hart. „Es ist nichts mehr da; das Gift ist alle! Verstehen Sie: Es gibt nichts mehr! Sie bekommen nichts mehr!“
Er machte einen weiteren Schritt vorwärts. Sabine drückte mit dem Ellbogen den Notrufknopf, unternahm aber noch einen Versuch: „Sie sind krank! Legen Sie sich auf die Erde! Legen Sie sich hin!“
Da sprang er auf sie los.
Ihm entgegen flog das Kollernetz, legte sich über seinen Kopf, über den Oberkörper, die Arme…
Henner und Lutz saßen in der Zentrale und besprachen den fälligen Wochenbericht an die Erde, als der Notruf schrillte. Sie fuhren herum und blickten auf die Ruftafel: die Apotheke!
„Alarm?“ fragte der diensthabende Pilot. „Nein“, rief Henner, schon von der Tür aus, und die beiden stürzten in den Gang hinaus.
Als sie das Arzneimittellager betraten, sahen sie Sabine über den im Netz gefangenen Piloten gebeugt. Sie zog die Spritze aus seinem Arm und richtete sich auf.
„Bitte knotet das Netz auf und legt ihn ins Krankenrevier“, bat sie.
„Es ist schon alles in Ordnung“, setzte sie müde hinzu.
„Was ist denn eigentlich los?“ fragte Henner.
Sabine berichtete, was sie entdeckt hatte und was danach geschehen war, und schloß: „Glaubst du nun, daß wir es mit einer Krankheit zu tun haben?“
„Ihr habt wohl recht“, gab Henner zu. „Aber wie konnte er sich so vergessen?“ fragte er gedrückt. „Jeder weiß doch, wie das endet.“
„Ich hätte das voraussehen müssen“, sagte Sabine nachdenklich. „Und ich hätte es sicher vorausgesehen“, wandte sie sich an Henner direkt, „wenn ich nicht mit deinen Argumenten zu kämpfen gehabt hätte.“ Sie sagte es ohne Vorwurf, aber Henner entgegnete mit nervöser Schärfe: „Ich hab doch schon zugegeben, daß ich unrecht hatte. Deswegen darf mir doch wohl unverständlich sein, wie jemand süchtig werden kann.“
„Ich kann mir das schon vorstellen“, entgegnete Sabine. „Er hat vielleicht während der Arbeit gemerkt, daß er plötzlich müde und unkonzentriert wurde, es war vielleicht in der Nachtschicht, er hat die verschiedenen Konzentrationsübungen absolviert, sie halfen nichts, und da hat er eben eine halbe Tablette genommen. Ein paar Tage später das gleiche – und dann muß ihn irgend etwas gehindert haben, sich dem Arzt zu stellen, wie es Vorschrift ist – und dann war es schon zu spät.“
Lutz schaltete sich ein. „Du hast ihn ganz schön angefahren, damals, nach dem falschen Alarm, vielleicht war es das“, sagte er zu Henner. Henners Gesicht zuckte. „Ich mache wohl alles falsch?“ fragte er bitter, drehte sich um und ging schnell hinaus.
Lutz sah Sabine bestürzt an. Sabine senkte die Augen. Da begriff er: Diese Frau hatte in den letzten Wochen mehr getragen als die Last der unbekannten Krankheit, für sie war dies nicht der erste derartige Ausbruch. Und als er das begriffen hatte, stiegen zwei Gefühle in ihm auf: die Hochachtung vor dieser bisher im Schatten ihres Mannes stehenden Ärztin – und das Unbehagen vor den Konsequenzen, zu denen die nun entstandene Lage zwang.
Es kam ihm lächerlich unwichtig vor angesichts dieser Lage, aber er tat es doch: Er leistete im stillen den Schwur aller jungen Männer, die solche Szenen einer langjährigen Ehe miterleben, nämlich, dafür sorgen zu wollen, daß in ihrer eigenen Ehe nie, nie die Kameradschaft verlorengehen solle. Und erst dann beschloß er, das, was da notwendig zu werden schien, von sich aus zu betreiben, um der Frau wenigstens diese Bürde abzunehmen.
Die nächsten Tage brachten alarmierende Meldungen. Die Zahl der Erkrankungen wuchs
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