Ein Stern fliegt vorbei
niemand etwas verraten von dem wahren Charakter der Manöver, von ihrem Anteil an den Unterlassungssünden und von der vermuteten Raumkrankheit.
Sabine beriet sich mit Lutz darüber, was zu tun sei. Lutz war zwar erstaunt, daß sie ihn und nicht ihren Mann, den Kommandanten, zu Rate zog, aber er war taktvoll genug, keine Fragen in dieser Richtung zu stellen.
Was konnte getan werden? Man konnte erstens der Krankheit ihren Lauf lassen in der Hoffnung, daß die geistig und körperlich kräftige Konstitution der Kranken sich selbst helfen werde. Das ging aber nicht, denn einmal war der Ausgang ungewiß, und zum anderen: wer sagte denn, daß sie die einzige Kranke bleiben würde? Früher oder später würde man doch nach Wegen der Bekämpfung suchen müssen – also besser früher als später.
Mehrfache Verabfolgung des Anregungsmittels war auch ausgeschlossen, da das zur Sucht führen würde.
Blieb ein gewisser, freilich vager Ansatzpunkt für Versuche, den Krankheitsverlauf zu beeinflussen: Die Ärzte hatten die Natur dieses Schlafes analysiert und herausgefunden, daß, während alle anderen Sinne blockiert waren, das Gehör in stärkerem Maße aufnahmefähig blieb als beim gewöhnlichen Schlaf. Die Tatsache, daß die Tablette gewirkt hatte, eröffnete eine zweite Möglichkeit: mit Hilfe genau dosierter und lokal begrenzter elektrischer Schocks direkt Erregungszustände im Gehirn hervorzurufen.
Aber das alles war so ungewiß, wie die Natur der Krankheit ungewiß war, und man konnte die Gefahr nicht ganz ausklammern, daß die eine oder andere Maßnahme auch das Gegenteil bewirken könnte.
Kurz, man war in dem Stadium, in dem man unter normalen Umständen vielleicht mit der Vorbereitung von Tierversuchen hätte beginnen können. Aber es half nichts, man mußte – wenn auch mit aller erdenklichen Vorsicht – etwas unternehmen.
„Sie schien mir vorhin nicht irgendwie aufgeputscht, sondern ganz normal“, sagte Lutz nachdenklich.
Sabine bestätigte das.
„Dann würde ich“, fuhr Lutz fort, „ihr noch einmal eine Tablette geben, vielleicht morgen, ihr den ganzen Sachverhalt erklären und sie um Erlaubnis bitten, vielleicht auch um ihre Hilfe – ich meine, vielleicht aktiviert sie das sogar etwas.“
Sabine dachte nach. „Das kann man, glaube ich, verantworten“, sagte sie dann entschlossen und bedankte sich bei Lutz.
Am anderen Tag bereitete sie alles vor. Als sie die Tablette holen ging, war sie in Gedanken ganz bei dem, was sie Kat sagen würde, nahm das Röhrchen aus dem Schrank, öffnete es, ließ eine Tablette auf ihre Hand rollen, schloß es wieder und schob es zurück in die Halterung. Erst in diesem Augenblick stutzte sie, weil es nämlich Unsinn war, das Röhrchen zurück in den Schrank zu tun: Es war leer. Sie hatte die letzte Tablette herausgenommen. Die letzte Tablette aus diesem Röhrchen. Was denn, wer… Sie erschrak so tief, daß sie sich für einen Augenblick festhalten mußte. Das war doch keine Vitaminpille, das durfte nur mit ihrer Genehmigung ausgegeben werden, und auch nur, um die eventuell verbrauchte Tablette des einzelnen Besatzungsmitglieds zu erneuern.
Eine Sekunde lang fragte sie sich: Hab ich da was vergessen? Bin ich vielleicht auch krank? Sie nahm das Röhrchen noch einmal heraus, öffnete es und drehte es mit der Öffnung nach unten, als gäbe es noch eine Chance, daß sie sich geirrt haben könnte. Aber es blieb dabei: Jemand hatte die Tabletten genommen. Es mußte ein Süchtiger an Bord sein! Vielleicht mehrere? Nein, entschied sie, das ist unwahrscheinlich. Es gehörte außer einer ziemlichen Labilität, die die Krankheit hervorrufen konnte, noch eine besondere seelische Zwangslage dazu, diesen Weg zu wählen, der ins sichere Verderben führen mußte. Nein, es mußte einer gewesen sein, und das machte die Sache noch schlimmer, denn er oder sie war jetzt schon stark süchtig. Gedankenlos öffnete und schloß sie mehrere Male das Röhrchen, bis ihr auffiel, was sie tat: Es ging ganz leicht, der Verschluß war öfter geöffnet worden, der Kranke hatte sich wohl jede Tablette einzeln geholt; wahrscheinlich jedesmal mit dem festen Vorsatz, daß es die letzte sein sollte; dafür sprach auch die eine Tablette, die noch im Röhrchen geblieben war, denn schlauer wäre es natürlich gewesen, das ganze Röhrchen mitzunehmen – einfacher, unauffälliger.
Aber das war jetzt bedeutungslos. Das Raumschiff war in Gefahr. Jeder konnte es gewesen sein, ausgenommen sie selbst und Kat,
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