Ein Stern fliegt vorbei
Nadja wie in der lange zurückliegenden Zeit, als sie sich gerade kennengelernt hatten. Obwohl es ihn schmerzte und obwohl er jeden anderen mit dieser Frage nach seinen intimsten Angelegenheiten hätte abfahren lassen, begann er: „Ja, weißt du, ich kann ihr nicht einmal böse sein. Es ist der Fluch des Alters, daß man sich verpflichtet fühlt, für alles Verständnis zu haben. Ihre Liebe war wohl hauptsächlich Bewunderung. Bewunderung nährt sich von Erfolg. Man kann auf die Dauer nicht jemand bewundern, der nur und ausschließlich Vorarbeit leistet für das nächste Jahrhundert und der dann noch hartnäckig darauf besteht, seine Mißerfolge zu Papier zu bringen und offiziell bekanntzugeben. Ich glaube, das ist der Kern. Nicht sosehr, daß sie selbst Erfolg haben will. Wenn es auch so aussieht.“
„Und das alles so plötzlich?“ fragte Nadja.
Er schüttelte den Kopf.
„Es hat sich angesammelt. Glaubst du, ich leide nicht darunter, daß unsere Forschungsarbeiten immer umfangreicher werden, immer mehr Mittel fressen, ohne daß auch nur das geringste Ergebnis in Sichtweite wäre, das das rechtfertigt?“
„Du weißt, daß du Unsinn redest“, stellte sie fest.
„Dennoch ist es Tatsache“, erwiderte er, „weil auch subjektive Gefühlsurteile Tatsachen sind, die Folgen haben. Zum Beispiel die Folge, daß ich für sie und sie für mich immer ungenießbarer wurde. Es gibt so eine komische Relation, die wirst du auch kennen: Je vernünftiger einer darauf reagiert, wenn seine Verstandesurteile angegriffen werden – und ich rechne mich da zu den sehr Vernünftigen –, um so unbeherrschter reagiert er, wenn man seinen Gefühlsurteilen widerspricht.“ Er winkte ab. „Na, male dir den Rest allein aus. Ich denke, sie hat recht gehandelt.“
Es lag eine Resignation in seinen letzten Worten, die ihr weh tat. Sie warf sich in diesem Augenblick vor, daß sie damals nicht um ihn gekämpft hatte. Sie schob diesen Gedanken beiseite, aber er kam immer wieder. So entstand ein langes Schweigen, das er nicht unterbrach, weil auch er mit einem Gedanken zu kämpfen hatte, der sich nicht abweisen lassen wollte: Es geschieht mir ganz recht, bei meiner ersten Niederlage habe ich meine Frau verlassen, diese Frau, die jetzt vor mir sitzt, weil ich ihr nicht die Kraft zutraute, das durchzuhalten – und bei der zweiten Niederlage verläßt mich die andere Frau, weil sie diese Kraft wirklich nicht hat.
„Vielleicht hast du recht“, sagte sie schließlich seufzend.
„Es ist da noch etwas“, meinte er zögernd, „ich soll dir etwas von ihr bestellen, etwas, das ich nicht verstehen kann – oder kaum.“
„Na, sag schon“, ermunterte sie ihn.
„Ich soll dir bestellen, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn ihr euch die Augen ausgekratzt hättet.“
„Ja, vielleicht“, sagte sie nachdenklich. „Vielleicht“, fuhr sie fort, „erkläre ich dir das später mal. Jetzt – jetzt muß ich dich bitten, einen Bericht an den Rat vorzubereiten. Ich meine nicht den schriftlichen, den ihr ja fertig habt. Den werden die Ratsmitglieder vorliegen haben. Ich meine einen mündlichen Bericht. Ausführlich. Mit persönlicher Stellungnahme.“
Duncan schien auf irgendeine unbestimmte Weise enttäuscht zu sein. „Das ist alles, was du zu sagen hast?“ fragte er.
„Im Augenblick ja“, antwortete sie.
Es fiel Nadja nicht schwer herauszubekommen, wohin Me I-ren sich begeben hatte: nach Kanton.
Noch am gleichen Tag flog Nadja dorthin und suchte sie ohne weitere Umstände auf.
„Im Grunde genommen habe ich dich erwartet“, sagte I-ren und blickte Nadja schräg von unten an.
„Ich will wissen, woran ich bin“, forderte die Ratsvorsitzende. „Duncan bildet sich ein, du hättest der Arbeit wegen aufgesteckt.“
„Ich hab’s ihm so gesagt“, antwortete I-ren.
Eine Weile schwiegen beide. Nadja wartete, und I-ren spürte das. Aber was sollte sie sagen? Sie war jetzt nicht glücklicher. Weiter mit Duncan zusammenzuarbeiten war ihr unmöglich. Es nicht zu tun ebenfalls – das war ihr inzwischen klargeworden.
„Und wann hat es angefangen?“ fragte Nadja schließlich.
I-ren seufzte. „Ich weiß nicht“, sagte sie hilflos, „plötzlich standest du zwischen uns. Dauernd war von dir die Rede. Ich wurde eifersüchtig. Er spottete darüber. Und er spottete um so lieber, je weniger wir in der Arbeit vorwärtskamen.“
In Nadja stieg ein seltsames Gefühl auf, eine Mischung aus Freude, Trauer und Bitterkeit. Sie
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