Ein Stiefel voll Glück - Oskar und Mathilda ; 1
noch in der Dämmerung und auch nicht, als es um kurz vor elf endlich dunkel geworden war. Mathilda gähnte. Geduld haben und Warten machte müde. Um sich wach zu halten, dachte sie an den Mofamotor und stellte sich vor, wie sie ihn zum Laufen brachte. Gleich morgen nach dem Unterricht würde sie das tun. Sie musste einfach wissen, ob es funktionierte, und außerdem würde es sie von all den anderen unschönen Dingen ablenken.
Mathilda lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen – und schon war sie eingeschlafen.
Als sie wieder aufwachte, wusste sie ein paar Sekunden lang nicht, wo sie sich befand. Sie fror und außerdem schmerzte ihr Hintern wie verrückt. Der kühle Vorhangstoff strich über ihre rechte Schulter. Die linke lehnte am kalten Fenster. Mathilda schüttelte sich und blickte fröstelnd durch die Scheibe auf Opa Heinrichens Haus hinunter. In einem der unteren Zimmer brannte Licht.
Mit einem Schlag war Mathilda hellwach.
Sie hob sich auf die Knie und rieb sich stöhnend über den Rücken. Dann presste sie ihre Stirn gegen die Scheibe und versuchte, etwas zu erkennen. War es möglich, dass Opa Heinrichen noch wach war?
In diesem Moment ging das Licht aus und das Deckenlicht im Nebenraum flackerte auf.
»Das Wohnzimmer«, murmelte Mathilda. »Das ist Opa Heinrichens Wohnzimmer.« Sie wiederholte es ein wenig lauter, denn das half ihr, sich zurechtzufinden. »Das Wohnzimmer und eben das war die kleine Stube.«
Ja, es musste die Stube gewesen sein. Dort standen der Ohrensessel, der Fernseher und der Tisch mit den Zeitschriften. Es war Opa Heinrichens Hauptraum. Hier aß er, sah fern, las oder döste vor sich hin. Das Wohnzimmer, welches gleich dahinterlag, betrat er so gut wie nie. Höchstens mal, wenn er Gäste hatte.
Mathilda fragte sich, was er ausgerechnet mitten in der Nacht dort suchte.
Und während sie sich das fragte, erlosch das Licht im Wohnzimmer und ging wenige Sekundenbruchteile später in der Stube wieder an.
»Opa Heinrichen!«, zischte sie. »Was machst du denn da?«
Mathilda hatte es kaum ausgesprochen, da wurde es in der Stube dunkel und im Wohnzimmer hell. Mit einem Mal sprang das Licht klack-klack, klack-klack blitzschnell hintereinander immer wieder an und aus, aus und an. Stube und Wohnzimmer wechselten sich ab.
Mathilda schüttelte den Kopf. Opa Heinrichen musste durchgeknallt sein!
Und dann war der Spuk mit einem Schlag wieder zu Ende. Das Wohnzimmer blieb dunkel und die Stube ebenfalls.
»Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig …« Mathilda zählte die Sekunden, während sie vom Sims herunterrutschte. Mittlerweile taten ihr auch die Knie weh.
Bei »… sechsundfünfzig …« leuchtete plötzlich hinter einem Fenster im ersten Stockwerk Licht auf. Wieder war es die Deckenlampe. Und wieder ging der Spuk von Neuem los. Licht an, Licht aus. Erst in dem einen Zimmer, dann in dem daneben. Klack-klack, klack-klack.
»Die Bibliothek«, wisperte Mathilda. Davor lag der Flur und dahinter schloss sich eine winzige Kammer an, in der Opa Heinrichen seine besonderen Schätze aufbewahrte.
Mathilda sah sich den Zauber eine Weile an, der nach und nach durch sämtliche Zimmer und Geschosse zog. Ob auchOpa Heinrichens Schlafzimmer davon betroffen war, vermochte sie allerdings nicht zu sagen, denn das lag zur anderen Seite raus.
Was veranstaltest du da bloß?, dachte Mathilda.
Und wenn es gar nicht Opa Heinrichen war, sondern ein Einbrecher – nämlich der, der auch den Drohbrief in die Küche gelegt hatte?
Aber was sollte dann das Theater mit dem Licht?, überlegte Mathilda weiter. Kein Einbrecher konnte so verrückt sein und ein solches Spektakel veranstalten. Er machte ja die ganze Nachbarschaft auf sich aufmerksam!
Und wenn genau das beabsichtigt war?
Ach was! Mathilda schüttelte energisch den Kopf. Was für bekloppte Einfälle sie manchmal hatte! Für eine solche Annahme gab es nicht einen einzigen vernünftigen Grund.
Und trotzdem, es half nichts. Mathilda musste es sich genauer ansehen. Sie würde sowieso keine Ruhe finden, solange sie nicht wusste, was da vor sich ging.
Schnell zog sie ein Paar Socken über und schlüpfte in ihre Sweatshirtjacke. Auf leisen Sohlen tappte sie nach unten und huschte durch den Flur in den gelben Salon. Sie öffnete die Verandatür, flitzte wieselschnell am Begonienbeet vorbei zur Hecke, warf sich auf den Boden und zog sich auf die andere Seite.
Mathilda wollte sich gerade aufrappeln, da sah sie sie: eine große weiße Gestalt.
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