Ein Stiefel voll Glück - Oskar und Mathilda ; 1
Sie hatte weder Kopf noch Füße undwirbelte wie ein Derwisch über die Wiese, an Opa Heinrichens Gartenhaus vorbei und verschwand schließlich in der Dunkelheit.
Mathilda lag da wie erstarrt. Sie wagte es nicht, sich zu rühren. Erst als sie einigermaßen sicher war, dass die Gestalt nicht wieder auftauchte, kroch sie zitternd in den Garten ihrer Eltern zurück.
Ganz allein zu Opa Heinrichen hinüberzulaufen und nachzusehen, ob mit ihm alles in Ordnung war, traute sie sich nicht. Und den Gedanken, ihre Eltern zu alarmieren, verwarf sie auch gleich wieder. Mathilda würde wohl oder übel warten müssen, bis der Morgen anbrach.
Mathilda raste in ihr Zimmer zurück, als ob der Teufel hinter ihr her wäre. Sie stürzte sich ins Bett und zog die Decke bis zur Nasenspitze hoch. Mit klopfendem Herzen fixierte sie den Wecker. Es war zwanzig nach drei. Sie hatte also fast vier Stunden auf dem Sims gehockt und geschlafen. Kein Wunder, dass sie so durchgefroren war. Und der Hintern tat ihr immer noch weh.
Aber natürlich bekam sie nicht nur deshalb kein Auge mehr zu. Hoffentlich ist Opa Heinrichen nichts zugestoßen, dachte sie mit bangem Herzen. Gleichzeitig verfluchte sie sich dafür, dass sie so feige war.
Um kurz vor fünf begannen die Vögel zu zwitschern. Untereiner dünnen Schicht winziger knubbeliger Schäfchenwolken färbte sich der Himmel rosagold.
Mathilda sprang aus dem Bett. Sie zog ihre lange Turnhose über und trat ans Fenster. In den Nachbarhäusern war noch alles ruhig, und auch Opa Heinrichens Grundstück wirkte so still und friedlich, als ob dort nie etwas Außergewöhnliches vorgefallen wäre.
Mathilda öffnete die Zimmertür und tappte die Treppe hinunter. Im Flur stand die Tasche von Antonia Drösel. Die Haushälterin musste vor wenigen Minuten hereingekommen sein. Wahrscheinlich bereitete sie gerade in der Küche das Frühstück vor.
Mathilda sauste auf Zehenspitzen weiter bis in den gelben Salon und auf die Veranda hinaus. Dort blieb sie wie angewurzelt stehen.
Ronald von Dommels Ein und Alles, das Rasenstück neben dem Begonienbeet, war mit alten Zeitungen, Pralinenpapier, Bananenschalen, Konservendosen und Zigarettenstummeln übersät, und aus dem Sommerblumenbeet lugte sogar eine Schnapsflasche hervor. Unfassbar!
»Opa Heinrichen, was hast du getan!«, wisperte Mathilda entsetzt.
Schlagartig waren sämtliche Vermutungen und Verdächtigungen, die sie bezüglich Frau Seselfinks Gärtner angestellt hatte, aus ihrem Gehirn geputzt. Nicht sie, sondern die Nachbarn lagen richtig, und ihr Vater hatte diese verdammteAnzeige vollkommen zu Recht aufgegeben. Opa Heinrichen musste von einem bösen Geist oder von einem Irren besessen sein. Aber vielleicht war er ja noch zu retten.
Mathilda warf einen raschen Blick zu den Schlafzimmern ihrer Eltern hinauf. Die Jalousien waren noch heruntergelassen. Aber sie musste sich beeilen!
Wie ein Gummiball hüpfte Mathilda über den Rasen. Sie stopfte sich die Taschen ihrer Turnhose mit Zigarettenstummeln voll, sammelte in aller Hektik den restlichen Unrat ein und schob ihn durch die Hecke in Opa Heinrichens Garten. Zu guter Letzt schnappte sie sich die Schnapsflasche, hechtete auf ihr Durchschlupfloch zu und robbte nun ebenfalls hinüber.
Dort angekommen, sprang sie auf die Füße, raste zwischen den Obstbäumen durch, ließ das Gartenhaus links liegen und erklomm den Komposter. Langsam reckte sie den Hals über die Mauerkante. Sie rechnete wirklich mit dem Schlimmsten, doch – Welch ein Glück! – Opa Heinrichen hatte Frau Seselfinks Grundstück verschont.
Erleichtert ließ Mathilda sich auf den Boden zurückgleiten und zischte nun am Gartenhaus vorbei und auf den Eingang des Haupthauses zu. Obwohl der Schlüssel wieder aufgetaucht war, hatte Opa Heinrichen nicht abgeschlossen. Wahrscheinlich die Macht der schlechten Gewohnheit, dachte Mathilda, aber im Moment war es ihr nur recht so. Sie stieß die Tür auf, durchquerte den großen quadratischenEingangsraum und rannte mit stampfenden Schritten die gewundene Holztreppe hinauf.
»Opa Heinrichen!«, brüllte sie. »Opa Heinrichen! Aufwachen!« Keuchend zog sie sich am Geländer hoch und erreichte endlich den Treppenabsatz. »Opa Hei…!« Der Rest blieb Mathilda im Hals stecken. Fast hätte sie den alten Herrn über den Haufen gerannt. Im ersten Geschoss war es stockduster. Da hatte sie Opa Heinrichen in seinem dunkelblauen Morgenrock glatt übersehen. Wie in Stein gehauen stand er da, sein hageres Gesicht
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