Ein Strandkorb für Oma
Tag jemand Neues?»
«Hey, wir sind ihre Familie, uns kennt sie doch!», beruhige ich ihn.
Regina verteilt ein paar zusammengetackerte Din-A4-Seiten mit Excel-Tabellen. «Ich habe mal durchgespielt, wie es laufen könnte.»
Ich blättere den Plan durch. Sogar die Möglichkeit, dass einer von uns mal spontan nicht kann oder krank wird, ist einkalkuliert. Es sieht perfekt aus.
Maria, Arne und ich erklären uns einverstanden. Jetzt muss es nur noch Oma erfahren.
Schweigend trotten wir vom Hafen über den Sandwall zu ihrer Wohnung. Ich nehme Marias Hand. Gleich werde ich eine der bittersten Situationen erleben, die man sich im Leben einer Familie vorstellen kann. Die Straßencafés sind voll besetzt, die Stimmung unter den Feriengästen ist prächtig. Ausgerechnet Oma soll ihre Unabhängigkeit aufgeben, die ihre Freiheit in den letzten Jahren bis zum Anschlag ausgekostet hat.
In der Kurmuschel gegenüber von ihrer Wohnung spielt die ukrainische Band wieder «Ich war noch niemals in New York», Touristen sitzen in den Bänken davor, einige Kinder tanzen mit Eiswaffeln in der Hand. Heute rauscht das Lied an mir vorbei, ohne dass ein Ton hängenbleibt.
Die erste Überraschung erleben wir am Hauseingang: Es gibt kein Klingelschild mehr! Nichts Gutes ahnend, treten wir ins Treppenhaus.
Die Tür zu Omas Wohnung steht offen, vom Flur kommt Musik aus einem Radio, irgendetwas aus den aktuellen Charts, das gegen die Kurmusik anplärrt. Wir gehen hinein und geraten in Panik. Die Wohnung ist komplett ausgeräumt. Ein Maler ist dabei, die Tapeten abzureißen. Er ist höchstens zwanzig und hat sich auf die Unterarme wilde Phantasietiere mit spitzen Zähnen tätowieren lassen. Die Hitze macht ihm sichtlich zu schaffen, seine Stirn ist schweißnass.
«Was ist hier los?», frage ich ihn.
Der Maler dreht das Radio leiser.
«Neue Tapeten», nuschelt er.
«Wo ist Imke Riewerts?»
«Von einer Riewerts weiß ich nichts», sagt der Mann und schabt weiter mit seinem Spachtel an der verräucherten Raufaser.
«Sie ist die Besitzerin!», hakt Maria ungläubig nach.
«Da müssen Sie sich an meinen Auftraggeber wenden, ein Herr Dr. Dreesen aus Flensburg», erklärt der Maler. «Für den soll ich hier alles neu tapezieren.»
Und Oma?
«Wo kann sie nur sein?», überlegt Maria. «Etwa auf dem Festland?»
«Dann hätte sie uns Bescheid gesagt», ist sich Arne sicher.
Plötzlich kommt Dr. Behnke die Treppe hinauf, der Hausarzt von Oma, mit dem sie auch befreundet ist. Kugelrund und fröhlich wie immer.
«Da staunt ihr, was?», lacht er. «Mir hat sie auch kein Wort gesagt, ich bin nur durch Zufall drauf gekommen. Ihr glaubt nicht, was passiert ist.»
Wir starren ihn fragend an.
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24. Ein Strandkorb für Oma
Mein Vater ist ein herzensguter Mann, der seit Jahrzehnten im Einwohnermeldeamt arbeitet und sich zu benehmen weiß (obwohl das Erste auch ohne das andere geht). Meine Mutter tritt gerne etwas zu aufdringlich auf, merkt aber durchaus, wenn sie zu weit gegangen ist (außer bei ihrem Sohn, aber das ist eine andere Geschichte).
Trotzdem, als meine Eltern mich damals in meiner WG besuchten, hatten sie keine Chance,
nicht
peinlich zu wirken. Ich war schon vorher hochgradig gestresst, weil ich unsere Dreckbude, in der vier Leute lebten, alleine aufklaren musste. Und das, obwohl ich keinen Küchendienst hatte, eigentlich war Lars dran, aber der war erst um sechs Uhr morgens nach Hause gekommen und schlief noch. Zum Glück gab es eine Kammer, in der einige Töpfe und Pfannen unabgewaschen zwischengelagert werden konnten, sonst hätte ich es bis zur Ankunft von Mama und Papa nie geschafft.
Dann rückten sie an. Eine halbe Stunde zu früh, wie immer, ich stand gerade unter der Dusche, als Maybritt grölte: «Sönke, deine Alten sind da.» Sie sagte wirklich «deine Alten», und meine Eltern hatten das mit Sicherheit gehört. Es würde einiges an Energie kosten, sie davon zu überzeugen, das Maybritt ihre positiven Seiten besaß, zu denen allein Einfühlungsvermögen und Höflichkeit nicht zählten. Dafür konnte man mit ihr bis zum Morgengrauen feiern und herumalbern, sie war immer der letzte Gast.
Leider würde auch
das
meine Eltern kaum beeindrucken.
Eltern können bei WG -Besuchen grob gesagt zwischen zwei Strategien wählen: entweder sich ranschmeißen an die Jugend oder förmlich bleiben. Wobei eigentlich nur die letztere wirklich funktioniert, weil jede Seite da wie auf Schienen fährt und sich
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