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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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obwohl beide auf einem steilen Abhang standen, war der Größenunterschied zwischen dem tiefer stehenden Großen und dem höher stehenden Kleinen so beträchtlich, daß beide Köpfe sich auf einer Ebene trafen.
    Die zwei Gesichter waren derart geschickt in die Zeichnung eingebaut, daß man meinen konnte, je eine Pupille samt Iris zu betrachten. Hinter den Gesichtern lag das Weiß der schneebedeckten Berge, welches in seiner neuen Bedeutung das Weiß der beiden Augäpfel bildete. Von der Frau hingegen, die zwischen den beiden Männern stand, war nichts mehr zu sehen. Sie war hinter dem dunklen, vertikalen Streifen verschwunden, welcher den Ansatz und den Rücken der Nase darstellte.
    Cheng zog die Abbildung aus dem Gestell heraus und studierte sein eigenes Antlitz. Kein schönes, aber ein edles Gesicht, fand er. Und wenn nicht edel, so doch interessant, auch der Unregelmäßigkeiten wegen, die aus einigen Verletzungen resultierten. Seine letzten Jahre in Wien waren schwer gewesen. Aber sie hatten seinem Gesicht einen gewissen Schwung, eine gewisse Tiefe verliehen.
    Er steckte die übermalte Fotografie in seine Manteltasche. Dabei überlegte er, was Moira Balcon mit dieser Aktion bezweckte. Sollte es bedeuten, daß er, Cheng, in dieselbe Kategorie fiel, in der auch Dr. Callenbach rangierte: also ein Modell zu sein, das nicht zu sterben brauchte? Das war immerhin ein freundlicher Gedanke. Aber es gab auch andere Möglichkeiten, wenn man bedachte, daß zwei Polizisten in einem Hotelzimmer umgekommen waren, in dem Cheng ursprünglich hätte nächtigen sollen. Doch darüber wollte er nicht weiter nachdenken. Er trat hinaus ins Freie und blickte sich um. Natürlich war von Moira Balcon nichts zu sehen. Sie war auch so ein Cravan-Typ: auftauchen und verschwinden. Dazu kam die Frage, was sie eigentlich wollte.
    »Dumme Frage«, sagte sich Cheng. »Die Frau ist verrückt. Sie ist nichts anderes als eine Maschine, die man nicht mehr abschalten kann. Eine Maschine, die tötet und zeichnet. Manchmal vielleicht auch nur zeichnet. Das ist es.«
    Er schob sich den Schal über sein Kinn, schloß den obersten Knopf und versenkte die Hand seines Armes in der Manteltasche. Dabei berührte er das Polaroid. Er zuckte. Postwendend lächelte er milde über dieses Zeichen seiner Erregung. Einen winzigen Moment lang freute er sich … ja, er freute sich auf seinen Tod. Dann ging er los, marschierte den Weg zurück, den er gekommen war, geriet mehrmals ins Rutschen, erreichte aber unversehrt Cravans Blume .
    Mortensen und Dr. Thiel waren über hohe, weiße Porzellanschalen gebeugt und fischten mit Stäbchen die mundfertigen Fleisch- und Gemüsestücke heraus. Cheng unterdrückte seinen Hunger und bestellte ein Bier, diesmal ein alkoholisches. Doch nachdem Mortensen und Dr. Thiel eine nächste Portion serviert bekommen hatten, der sie sich mit derselben Ausschließlichkeit widmeten, gab Cheng seinem Hunger nach und orderte eine Portion Hummerchips. Das war ein Kompromiß, den er eingehen konnte, da er Hummerchips nicht für ein östliches, sondern ein westliches Erzeugnis hielt. Freilich kannte er diese Dinger bloß vom Sehen und Hören. Doch die, welche er nun kredenzt bekam, waren ungewöhnlich groß, wie kleine, an den Rändern nach oben gebogene Pizzaböden. Vier Stücke lagen übereinander auf dem Teller. Dazu wurde die übliche Soja-Essig-Mischung serviert. In der Mitte der Chips war ein Signet zu erkennen, das aus den Buchstaben A und C bestand – ein glänzender Schimmer bloß, wie mit Knoblauchsauce aufgemalt. Die Initialen konnten nichts anderes als »Arthur Cravan« bedeuten. Als Cheng die Sojasauce über die Scheibe träufelte und die Oberfläche in der typischen Weise zu knistern begann, schienen die beiden Buchstaben in kleinen Flammen zu stehen. Schmecken tat es trotzdem, wie sich Cheng eingestehen mußte. Übrigens kam er nicht auf die Idee, von seinem Erlebnis in der Konradskirche zu berichten. Es brauchte niemand zu wissen, daß ihm Moira Balcon erneut entkommen war. Daß er nicht einmal versucht hatte, ihr zu folgen. Und erst recht wollte er nicht über das Porträt sprechen, das ihn in irgendeiner Form zu einem Auserwählten machte.
    Worüber dann sehr wohl gesprochen wurde, war die Frage nach der Freilassung jenes inhaftierten Herrn F., des Mannes, der für Mortensen nur der Silbergraue war und dessentwegen Cheng ja überhaupt erst engagiert worden war.
    Dr. Thiel mußte gestehen, daß die Hinweise auf die Täterschaft

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