Ein Sturer Hund
Herrn F.s sich bald als überaus dünn erwiesen hatten. So war etwa klargeworden, daß die Blutspur auf seinem Hemd zwar tatsächlich von Thomas Marlock stammte, jedoch auf einen Unfall in der Betriebskantine von »Kranion« zurückzuführen war. Eine Allerweltsgeschichte. Ein Unfall mit einem Glas, für den es mehr Zeugen gab, als man in einem Gerichtssaal hätte unterbringen können. Dazu kam, daß Marlock und der Silbergraue tatsächlich hin und wieder unter ein und dieselbe Bettdecke gekrochen waren.
»Bisexuelle eben«, sagte Dr. Thiel. »Das scheint eine richtiggehende Mode zu sein. Vor allem unter Computermenschen. Gott weiß, warum! Auf jeden Fall hat sich daraus mehr Entlastendes ergeben als das Gegenteil. Man muß es so sagen: Unsere Indizien haben sich als recht kümmerliche Gewächse erwiesen.«
»Und warum ist der Mann noch nicht frei?« beschwerte sich Mortensen.
»Und warum stehen wir hier?« konterte Dr. Thiel, sagte dann aber: »Der Staatsanwalt benötigt mehr denn je einen Schuldigen. Einen sauberen Schuldigen. Und keine Moira Balcon.«
Kurz nach zwei Uhr verließen die drei Männer Cravans Blume. Indem sie einen Blick auf die Fernsehseite einer Tageszeitung geworfen hatten, wußten sie, daß Flemmings Nase um vier Uhr live aus dem Fernsehturm übertragen wurde. Man konnte sich also auf den Weg machen, wollte man Rosenblüt noch vor seinem Auftritt sprechen.
Infolgedessen, daß Mortensen und Dr. Thiel auf ihre Uhren gesehen hatten – freilich ohne die Zeiten verglichen zu haben, denn auf Sekunden kam es wirklich nicht an –, warf auch Cheng einen Blick auf seine Automatic und stellte fest, daß die Beschlagenheit des Glases um den Rand herum verschwunden war, nicht aber zur Mitte hin. Er erkannte also die Ziffern sowie die Spitzen des Sekunden- und des Minutenzeigers. Der Stundenzeiger und das im Zentrum aufgedruckte Freimaurersymbol blieben jedoch hinter der schaumigen Schicht aus Bläschen verborgen. Es kam Cheng vor, als verfüge er über die Zeit bloß wie über etwas Halbes. Als besitze jeder seiner Momente nur die Hälfte der Energie, während am Anfang dieses Tages, als er das erste Mal auf seine Uhr gesehen hatte, die Zeit praktisch inexistent gewesen war. Und damit auch die Frage nach der Energie.
Nun, das waren recht abstrakte Überlegungen, die Cheng durch den Kopf gingen, während er als beinahe vollständiger Mensch wieder auf dem Notsitz von Dr. Thiels Porsche 924 Platz nahm. Nachdem es hart genug gewesen war, vom Westen her hinunter in die Stadt zu gelangen, erwies es sich naturgemäß als noch weit schwieriger, den Wagen den Südhang hinauf zum Hohen Bopser zu chauffieren. Selbst auf der stark befahrenen Neuen Weinsteige herrschten noch immer winterliche Bedingungen. Jeder Fahrer war mit seinem Wagen wie mit einem schwer einschätzbaren, unwilligen Organismus beschäftigt. Also mit einem lebendigen Wesen, das zu kontrollieren einer Abrichtung bedurft hätte. Aber von Abrichtung konnte im Falle von Autos natürlich nicht die Rede sein. Außer in einer sehr esoterischen Welt. Esoterik wiederum war mitnichten das Gebiet, in das sich die nüchternen Stuttgarter Autofahrer freiwillig begeben hätten.
Dr. Thiel kämpfte. Und diesmal kamen auch Cheng und Mortensen nicht umhin, diesen Kampf mitzuerleben, die Haltlosigkeit der Räder auf dem eisigen Untergrund. Eine Angespanntheit machte sich breit. Eine Erhitztheit im Sitzen und im Angeschnalltsein. Umso befreiender war es, als Dr. Thiel in die Jahnstraße einbog und sich bald darauf der Blick auf den schlanken Körper des Fernsehturms eröffnete.
Es muß gesagt werden, daß selbst Cheng – der weit entfernt war, einem hiesigen Lokalpatriotismus das Wort zu reden – den Turm als den schönsten seiner Art empfand. Was seinen tieferen Grund vielleicht darin hatte, daß dieses Bauwerk auch das erste seiner Art gewesen war und somit ein wirkliches Original darstellte. Davor hatte man sich mit der Errichtung von Stahlgittermasten begnügt. Der Stuttgarter Fernsehturm jedoch wurde von einer runden, dünnwandigen Betonsäule bestimmt, welche quasi in die Luft wie in eine passende Lücke hineingebaut worden war. Ja, man wurde angesichts dieses Turms das Gefühl nicht los, daß der Standort, also nicht bloß der auf und in der Erde, sondern eben auch jener im Bereich der Atmosphäre, vorgegeben gewesen war. Von vornherein. Und daß jede technische und städtebauliche Überlegung dann nur noch eine nachträgliche Bestätigung
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