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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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zwischen die Bücher seiner umfangreichen Bibliothek geklemmt – entdeckt worden. Vom dazugehörigen Leib fehlte jedoch bis dato jede Spur. In der Regel war es umgekehrt. Zumeist fehlten die Köpfe. Aus psychologischen Gründen, wie aus Gründen reiner Verschleierung.
    Man konnte also nicht von völlig identischen Verbrechen sprechen, schließlich hatte man im vorliegenden Fall den Körper – der übrigens unverletzt geblieben war, soweit man das sagen konnte – im Schlafzimmer des Opfers aufgefunden. Nichtsdestotrotz stellte es eine bemerkenswerte Ähnlichkeit dar, daß einerseits der Stuttgarter Kopf in einem Aquarium und andererseits der Heidelberger Kopf in einem Bücherregal deponiert worden waren. Bei Aquarium und Bibliothek handelte es sich ja nicht bloß um Formen einer Wohnungseinrichtung, sondern um recht hochgestochene Elemente bildungsbürgerlichen Anspruchs. Das Aquarium als naturwissenschaftlich-ästhetische Erbauung. Die Bücherwand als humanistische Tapezierung eines Raums. Es schien also mehr als angebracht, eine Verknüpfung zwischen dem Heidelberger und dem Stuttgarter Fall zu überprüfen. Was in der internen Diktion der Polizei bedeutete: die Herden zueinander zu führen.
    Mortensen überlegte, welch ungemeine Kraftanstrengung es wohl bedeuten mußte, einen Hals zur Gänze zu durchtrennen. Die ganze Sauerei, die dabei entstand. Das viele Blut. Die knorpelige Widerspenstigkeit der Halswirbel, die Zähigkeit des Fleisches, der Schnitt durch Luft- und Speiseröhre wie durch zwei Gummischläuche. Dieser wirre, abscheuliche Anblick, der den meisten inneren Dingen anhaftet.
    Unmöglich für Mortensen, sich vorzustellen, wie ein Mensch dazu in der Lage war. Als Schriftsteller konnte er zwar eine Idee bezüglich des Weges entwickeln, auf dem ein Mensch auf eine solche Tat zuschritt, doch die Handlung selbst, die Überwindung des Ekels erschien ihm unerklärlich, unmenschlich im wörtlichen Sinn. Wenngleich er jetzt wieder an das Ausnehmen eines Huhnes erinnert wurde und daß er doch als Kind eigentlich recht interessiert zugesehen hatte. Allerdings eben in der Hoffnung, in einem dieser Hühner würde sich etwas Besonderes verborgen halten. Aus dieser Vorstellung ergab sich nun eine weitere. Eine völlig absurde. Daß nämlich auch die Mörderin, die sogenannte Sandfarbene, nur deshalb die Durchtrennung des Halses vorgenommen hatte, um aus Thomas Marlock etwas herauszuholen.
    »Und was bitte?« murmelte Mortensen vor sich hin. »Was wird sie wohl gesucht haben? Eine winzige Fernsteuerung? Das stecknadelgroße Geheimpapier einer ebenso geheimen Organisation? Eine verschluckte Gräte?« Er lachte spöttisch in sich hinein. Bemerkte jedoch sogleich sein auffälliges Benehmen und sah sich ängstlich um. Niemand beachtete ihn. Ein jeder war mit sich und der eigenen Wurst beschäftigt.
    Mortensen blieb eine ganze weitere Stunde hier stehen und zog mit dem Dreizack rechenartige Spuren über die Fläche aus Majonäse und Ketchup wie im Kiesbeet einer japanischen Gartenanlage. Und tatsächlich besaß der Anblick der gleichmäßigen Linien einen durchaus meditativen, beruhigenden Charakter. Aber als die Uhr gegen eins ging, justierte Mortensen seine Ohren. Umsonst, denn in den Nachrichten wurde kein Wort mehr über den Mordfall verloren.
    Mortensen verließ die Imbißstube. Der Wind trieb den Schnee wie in abgepackten Ladungen durch die Straßen und über die Plätze. Mortensen senkte seinen Kopf tiefer in den Kragen und marschierte durch den eisigen Wind hinüber zur Bushaltestelle, wo er eine Weile neben einer Reklame ausharrte. Darauf war ein Mann zu sehen, der ebenfalls von Schneeflocken umgeben war, sich jedoch auf eine Weise gekleidet hatte, die gleichzeitig einen leichten und lockeren wie auch einen winterfesten Eindruck vermittelte – ein Beau in Sibirien. Mortensen hingegen mutete alles andere als locker und winterfest an und bildete einen überdeutlichen Kontrapunkt zu den Empfehlungen der Warenwelt. Es beleidigte das Auge, wie er dastand, ohne Schal, ohne Kopfbedeckung, freudlos, mit dieser verkniffenen Körperhaltung, weniger ein Opfer der Jahreszeit als der eigenen Kleiderwahl. Erbärmlich. Hätte er sich selbst sehen können, er hätte nicht anders darüber gedacht.
    Endlich erlöste ihn der Bus aus der Kälte. Mortensen tauchte in das Innere des Wagens wie in eine dampfende Erdhöhle von Winterschläfern. Zumindest schienen sich die meisten Fahrgäste in einem Dämmerzustand zu befinden. Was kein

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