Ein Sturer Hund
Starre. April sprang auf einen Schrank, während Mortensen eine mitgebrachte Flasche Wein aus der Tasche zog, öffnete und sich ein Glas einfüllte. Sodann nahm er auf seinem geliebten S-Stuhl Platz, der vor dem rechten Teil der Fensterfront aufgestellt war und auf dem man weder so richtig sitzen noch so richtig liegen konnte, sondern aufrecht lag oder liegend saß. Und genau das war es ja, was Mortensen an diesem Stuhl, der dem Benutzer eine ganz bestimmte Haltung aufzwang, so schätzte: diesen Zwischenzustand, den er als schwebend empfand, auch wenn man natürlich von einer Stellung sprechen mußte, die sich auch bei jedem anderen simplen Liegestuhl ergeben hätte. Aber das Besondere lag wohl darin, daß es sich bei diesem Möbel um eine außerordentliche Antiquität handelte, die zu benutzen beinahe etwas Banausenhaftes besaß. Der Stuhl, der tatsächlich den Namen »S« trug (da sein Holzgerüst einem gekippten S entsprach), war eine Konstruktion von Eileen Gray, die dieses Modell für ihr Haus in Castellar entworfen hatte. Das war 1932-1934 gewesen, die Zeit also, in der auch der »Rosegger-Bunker« entstanden war. Der Stuhl hatte seit dieser Zeit mehrmals den Besitzer gewechselt und war jedes Mal teurer geworden. Er war zum millionenschweren Spekulationsobjekt aufgestiegen, wobei Frau von Wiesensteig ihn natürlich nicht gekauft, sondern geerbt hatte. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, zweihunderttausend Dollar für einen noch so hübschen Stuhl auszugeben. Nicht für ein S. Und auch sonst für keinen Buchstaben. Im Erben aber war sie groß. Das Erben war geradezu eine Spezialität von ihr. Es kam sogar vor, daß sie die Hinterlassenschaft von Verwandten antrat, welche bei ihrem Tod vierzig Jahre jünger waren als die Freifrau. Einmal hatte sie gesagt, sehr zum Befremden ihrer Gäste, die nicht wußten, ob sie gerade spaßte oder nicht: »Ich werde ewig leben. Denn einer muß schließlich erben. Nicht wahr?«
Und als Moritz Mortensen sich nun auf der durchhängenden Polsterung des S-Stuhls ausstreckte, weder saß noch lag, sondern im Raum schwebte und dabei die vom Schnee bedeckte Gartenlandschaft betrachtete, fühlte er sich trotz seiner verzwickten Situation recht wohl, ja, es gelang ihm sogar, für eine Weile den Fall Thomas Marlock zu vergessen. Lange genug, um in Frieden seine Flasche Wein zu leeren und einzuschlafen. Der Schlaf kam jetzt öfter, wie auch der Durst öfter kam.
Bei seinem Erwachen lag der Raum in völliger Dunkelheit. Auf seinem Bauch spürte er die gemächlich-konstante Vibration des Katzenkörpers. Das Gefühl der Schwerelosigkeit war nun perfekter als zuvor. Er war jetzt wie ein Mann, der mit einer Katze auf dem Bauch durchs All segelte.
Genug gesegelt!
Mit einer Bewegung seiner Hand stieß er die Katze von ihrem Platz. Für einen Moment erschrak er, da ihm schien, er hätte April in die Leere des Raums geworfen, denn ihr Aufkommen auf dem Parkettboden war für ihn ohne einen wahrnehmbaren Ton gewesen.
»Siamesische Pfoten hört man nicht«, dachte Mortensen. Natürlich nicht. Und das, obwohl sie mit Krallen angefüllt waren und hätten scheppern und klirren müssen. Gleich den Sporen eines Pistoleros.
Mortensen erhob sich schwerfällig aus dem Stuhl, realisierte eine gewisse Betrunkenheit und schritt nun langsam, mit nach vorn gestreckten Armen durch den Raum, wobei sich ein deutliches akustisches Muster seiner Fortbewegung bildete. Nach und nach konnte er die Konturen des Saals wahrnehmen, und schließlich gelang es ihm, einen Lichtschalter zu betätigen. Zwei von der Decke hängende, diskusförmige Beleuchtungskörper sprangen gleichzeitig an und verströmten ein cremefarbenes Licht, das die Gegenstände mehr berührte als beleuchtete.
An den Flanken des nun milde erhellten Raums erstreckten sich zwei weitere Räume. In jenem, der nach Osten wies, befand sich die Küche, die in der Art einer kubistisch zerstückelten Steinküche eingerichtet war, in die man nach und nach intelligente Geräte wie Geschirrspüler und Elektroherd gezwängt hatte. Hauptstück jedoch war eine noch weit intelligentere Espressomaschine, die mit ihrem mächtigen metallischen Körper einen jeden Blick anzog.
Dieser Raum war stets derart aufgeräumt, so frei von Lebensmittelspuren, daß Mortensen den Eindruck bekam, daß hier die Kochkunst sich in der Espressozubereitung erschöpfte. Und wirklich war Frau von Wiesensteig alles andere als eine engagierte Köchin. Sie hielt unbezahltes Kochen für
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