Ein Sturer Hund
Wunder war. Die Mittagszeit und der lichtarme Tag wogen schwer. Auf jeden einzelnen in dieser Stadt legte sich eine betäubende Müdigkeit, durch die man gleich einem Blinden sich hindurchtasten mußte. Einmal abgesehen von den Leuten, die in ihren Büros saßen und während der Mittagszeit das Leben in Harz eingeschlossener organischer Fragmente führten.
Der Bus mühte sich den Herdweg hoch zur Lenzhalde. Mortensen sah hinunter auf den Kesselboden der Stadt, der im Schneetreiben keineswegs angezuckert wirkte, sondern vielmehr die Vorstellung einer in die Luft gejagten Zementfabrik hervorrief. An der Robert-Bosch-Straße stieg er aus.
Hier oben besaß der Schnee eine weit romantischere, eben eine schneeartige Erscheinung. Große Flocken stapelten sich auf den Hecken und Mauern, welche die Grundstücke und Häuser umgaben.
Die Gegend gehörte zu den besten der Stadt, wenngleich dem kritischen Betrachter bei aller offenkundigen Vornehmheit des Geländes auffallen mußte, wie völlig bieder, ja geschmacklos die Fassaden der meisten Gebäude gestaltet waren. Allein die Tore der überbreiten Garageneinfahrten waren auf eine geradezu unglaubliche Weise häßlich. Das teuerste Material »harmonierte« hier mit völlig mißlungenen Formen. Das war keine Frage der persönlichen Disposition des Betrachters. Wenn irgendwo auf der Welt die Frage nach schön oder häßlich eindeutig zu beantworten war, dann an diesem Ort, der so gesehen also ein philosophisch-logischer Ort war, an dem sich das Häßliche beweisen ließ. Jedes Ding, ob Türklinken, Geländer oder die so beliebten geschmiedeten, bauchigen Fenstergitter, ob altmodisch oder modern, verursachte bei der Betrachtung, selbst noch bei der Berührung einen körperlichen Schmerz. Und dennoch kam er gerne hierher. Er war fasziniert, ja begeistert ob der Einmaligkeit dieser architektonischen Monstrositäten, die sich – bautechnisch gesehen – in zumeist einwandfreiem Zustand befanden. Auch war er sich dessen bewußt, daß die Menschen, die hier lebten und die eine solche ausgeprägte Vorliebe für alles Häßliche besaßen, noch lange keine unglücklichen Menschen sein mußten. Im Gegenteil. Diesen ständigen Schmerz, der von der Häßlichkeit der Immobilien ausging, konnte man – wenn man so wollte – als durchgehende Massage, andauernde Akupunktur oder anhaltende Homöopathie verstehen.
Als Mortensen diese seine Theorie einmal im Freundeskreis vorgetragen hatte, war jemand so frei gewesen, ihn des simplen Neids gegen die Vermögenden zu bezichtigen, die sich eine gute Wohnlage leisten konnten. Woraufhin Mortensen protestiert und dem Freund die Freundschaft gekündigt hatte. Leute, die ihm einen Neidkomplex anhängen wollten, waren für ihn schnell gestorben. Überhaupt vergaß er Menschen so prompt wie tränenlos. Ausgenommen die wirklich Toten. Zu denen jetzt auch Thomas Marlock gehörte.
Von der Robert-Bosch-Straße zweigte die Anzengruberstraße ab, einen spitzen Winkel bildend und den Hang steil bergauf führend. Mortensen war der einzige Mensch auf der Straße. So nahe vor seinem Ziel war es ihm gleichgültig, daß das Schneewasser in seine Schuhe drang. Gegen die Mitte der Straße hin ging eine schmale Sackgasse nach links ab, den Hügel wieder leicht abwärts weisend. Dies war der Grillparzerweg, der kleinste von den drei idyllischen Betonstreifen. Danach verlief die Anzengruberstraße beinahe eben weiter. An ihrem Ende führte eine Biegung nach rechts in den Roseggerweg und rang dem Passanten erneut die Anstrengung ab, eine stark ansteigende Straße hinaufzumarschieren, bei der es sich ebenfalls um eine Sackgasse handelte. Es waren nur wenige Häuser, die auf der Seite, die zur Stadt wies, zwischen Bäumen standen, während der gegenüberliegende Bereich allein der Natur überlassen blieb. Unter diesen Gebäuden befanden sich sogar zwei, welche die übliche architektonische Häßlichkeit durchbrachen. Eines davon war die Villa der Frau von Wiesensteig, die sich im oberen Teil des Roseggerwegs befand und mittels zweier Reihen von Nadelbäumen gegen die Nachbargebäude abgeschottet wurde. Nadelbäume deshalb, um die Abschottung über das gesamte Jahr hin zu gewährleisten. Der von dunklem, grob gehauenem Stein ummantelte zweigeschossige Bau mochte auf den ersten Blick streng und nüchtern erscheinen. Und wirklich besaß er einen abweisenden Charakter. Aber das war gut so. Es handelte sich gewissermaßen um ein Gebäude, das dem Betrachter die Schamlosigkeit
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