Ein Sturer Hund
er endgültig aus seinem Zustand erwachte. Er fühlte sich wie jemand, der eben auf die Welt gekommen war, allerdings sechsundvierzigjährig und ziemlich angeschlagen. Und ohne jede Begeisterung. Sogleich begann er heftig zu frieren, weshalb er sich ein heißes Bad zubereitete. Auch, um in aller Ruhe die Zeitung zu studieren. Auch, um nachzudenken, was nun zu tun sei.
In derselben symmetrischen Anordnung, mit der im Untergeschoß Fernsehraum und Küche die beiden Seitentrakte formten, bildeten im oberen Stockwerk Bibliothek und Badezimmer die zwei entgegengesetzten Außenteile, während der längliche Hauptraum einen von vielen Wandschirmen locker geteilten Schlaf-, Kleider-, Schmink- und Erholungsbereich darstellte.
Die Bibliothek lag über der Küche, und oberhalb der Kapelle befand sich das Badezimmer. Es beherbergte einzig und allein eine Wanne, die aus dem gefliesten Boden ansatzlos, in der Art eines Vulkankegels herauswuchs. Der ganze Raum, auch die Zimmerdecke, auch der gesamte Wannenkörper, bestand aus dreieckigen Kacheln von der Farbe reifer Tomaten. Bloß die Armaturen sowie zwei aus der Wand stehende Lampen und ein Fenster, schmal und länglich wie jenes in der Bibliothek, unterbrachen die Folge kleiner roter Fliesen. Und wie in der Bibliothek waren Buchstaben auf die Scheibe aufgemalt. Sie ergaben das Wort WODKA, das – nicht weiter erstaunlich – von den meisten Betrachtern für weniger verwirrend gehalten wurde als jenes den Büchern zugedachte GÜRTEL. Entweder, weil die Leute wußten, daß Wodka »Wässerchen« bedeutet, oder da sie schlichtweg der Meinung waren, zu einem heißen Bad würde ein guter Schluck Wodka besser passen als ein Gürtel zu einem guten Buch.
Es war jedoch kein Wodka, den Mortensen auf dem Rand der gefliesten Wanne abstellte, sondern eine Schale Kaffee, aus der die warme Flüssigkeit herausdampfte, so wie auch das soeben gefüllte Badewasser. Es dampfte ganz beachtlich, als Mortensen in die Wanne stieg und seinen fröstelnden Körper langsam in die vom Badesalz grünlich verfärbte Brühe gleiten ließ.
Aus einem Radiogerät drang Musik, Bernsteins »The Age of Anxiety«. Eine Komposition, die Mortensen zum ersten Mal hörte. Und da er mitten im Stück eingeschaltet hatte, konnte er nicht wissen, welchen Namen es trug. Folglich begriff Mortensen das Konzert bloß als irgendeine nicht ganz geheuerliche symphonische Ausbreitung. Wäre er sich jedoch des Titels bewußt gewesen, hätte er dieses Werk der Tonkunst völlig anders empfunden: nämlich als eine Offenbarung, eine klangliche Wiedergabe seiner eigenen traurigen Existenz. Eine vielschichtige und vielgesichtige Spiegelung seiner Beziehungslosigkeit. Und diese Erkenntnis hätte ihm allemal geholfen, sich ein wenig besser zu fühlen.
Doch ohne Titel hat die ganze Kunst keinen Sinn. Kein Bild, kein Film, kein Buch und eben erst recht keine Musik würden uns etwas bedeuten, wären da nicht all die Titel, die uns gleich Pfaden auf die eigentlichen Ereignisse zuführen. Was wäre eine noch so geniale Symphonie wert, würde sie nicht »Unvollendete« benannt sein und damit einem jeden Zuhörer die wunderbar-bittere Tragödie jeglichen, vor allem aber des eigenen Unvollendetseins bewußt werden lassen?
Was wäre selbst ein Geniestreich wert, würde er nicht »Der Rosenkavalier« oder »Requiem« oder »4’33’’« betitelt sein? Nein, der Titel ist absolut nötig, und selbst wenn er heißt: »ohne Titel«. Dann ist immerhin der weiße Fleck der Wirklichkeit durch einen weißen Fleck auf der Landkarte gekennzeichnet. Auch das ist eine Hilfe. Schließlich ist es ein Unterschied, ob man sich einfach nur verirrt, oder ob man weiß, daß man sich verirrt.
Mortensen vernahm also ein Musikstück, ohne zu begreifen, wie nahe es ihm eigentlich hätte gehen können, hätte er den Titel gekannt. Da dies aber nicht der Fall war, hörte er auch bald nicht mehr hin, genehmigte sich statt dessen einen Schluck seines Kaffees und blätterte die Zeitung auf. Gleich auf einer der ersten Seiten prangte ein Foto Rosenblüts. Offensichtlich wollte man auch im Zeitungsbereich auf die Starwerdung dieses Mannes, der so sehr an Paul Newman erinnerte, nicht verzichten. Der Gesichtsausdruck des Kriminalisten besaß eine ideale Mischung aus Zuversicht und Nachdenklichkeit. Dazu kam ein Blick, welcher derart in die Ferne gerichtet war, als überschaue Rosenblüt das gesamte Land. Allein wegen dieses Blickes hätte er eigentlich in die Politik gehört.
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