Ein Sturer Hund
Denn die Frage stellt sich, ob tatsächlich ein einfacher Streit zwischen Freunden eine solche Explosion an Gewalt zur Folge haben konnte. Ist dies wirklich denkbar? Und was sagt ›Kranion‹ dazu, also jenes Unternehmen, in dem Täter wie Opfer beschäftigt und an bedeutenden Projekten beteiligt waren? Könnte eines dieser Projekte das Unglück heraufbeschworen haben? Und was ist mit dem drei Jahre zurückliegenden Fall des Bernd Pfleiderer? Muß man tatsächlich die Hoffnung begraben, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, also zwei Verbrechen mittels einer Festnahme zu klären? – Sie, die Zuschauer, werden es erfahren. Denn Ihr Lieblingsmagazin, Ihr Lieblingsreporter ist immer dort, wo die Wirklichkeit geschieht. Ich bin Adrian Frank.«
Mortensen wechselte den Kanal. Er verbrachte den Abend und die Nacht damit, mehrmals umzuschalten und sich eine Nachrichtensendung nach der anderen anzusehen. Beinahe alle berichteten über die neue Entwicklung im Mordfall Marlock. Einige der Sprecher und Sprecherinnen verstiegen sich bereits zu der Behauptung, der Mörder sei gefaßt und das Verbrechen so gut wie geklärt. Dabei betonten nicht wenige die Rasanz und Präzision, mit der die Polizei vorgegangen sei. Entgegen der üblichen Zurückhaltung, was die Nennung von Namen betraf, wurde Hauptkommissar Rosenblüt erstaunlich oft erwähnt. Zumindest von den privaten Fernsehanstalten. Es schien, als betreibe man hier die Inthronisierung eines öffentlichen Stars der Kriminalistik. Daß Rosenblüt eine auffallende Ähnlichkeit mit Paul Newman besaß (dem Newman am Beginn seiner Sechziger, als er in »Die Farbe des Geldes« spielte), war so gesehen wahrscheinlich ein auslösendes Moment gewesen. Zumindest kein Nachteil.
Als Mortensen gegen drei Uhr morgens seinen deprimierenden Gang durch die Kanäle beendete und sich im Hauptraum auf dem S-Stuhl niederließ, befand er sich nicht nur in einem schrecklich alkoholisierten Zustand, sondern überhaupt in einer schrecklichen Verfassung. Mit der Festnahme des Silbergrauen war alles nur noch schlimmer geworden. Denn dieser Mann war ja unschuldig, und niemand – außer der Mörderin – wußte dies so gut wie Mortensen. Es wäre also mehr denn je ein Gebot der Stunde gewesen, sich endlich bei der Polizei zu melden und eine Aussage zu tätigen. Freilich nicht genau in dieser Stunde, nicht um drei Uhr morgens, weshalb Mortensen in seinem Stuhl sitzenblieb und im schwachen Schein einer Stehlampe immer wieder einnickte.
Die Strahlen der Leuchte fielen durch winzige Löcher, die in eine kleinkindgroße Metallröhre gestanzt waren. In der Dunkelheit des Raums hätte man diese Lampe für den letzten mickrigen Rest leuchtender Sterne in einem ansonsten ausgekühlten Universum halten können. Mortensen wäre dann nichts anderes gewesen als ein konturloser, rein theoretischer Teil des kalten, dunklen, leeren, toten Raums. Und eigentlich hätte dies auch genau seinem sehnlichsten Wunsch entsprochen. Eben nicht nur einfach tot zu sein, was ja kaum eine Garantie für absolute Ruhe gewesen wäre, sondern zudem auch dunkel und leer und kalt. Und selbst das nur theoretisch.
Aber das Leben ging weiter. Und zwar recht früh, da sich April bereits gegen sieben Uhr morgens bemerkbar machte. Was eigentlich ein Grund gewesen wäre, das Tier sanft oder unsanft zu entfernen. Doch Mortensen war trotz seiner Kopfschmerzen butterweich, mühte sich aus dem Stuhl und schlurfte in die Küche.
April wand sich geschickt um seine Beine, so daß man von Mortensen als von einer gehenden Slalomstange hätte sprechen können. Ohnehin war er in diesem Moment mehr ein Ding als ein Mensch, vollzog eine jede Handlung wie automatisch: die Inbetriebsetzung der Espressomaschine, das Öffnen einer Dose, das Streicheln der Katze, wobei er noch über Aprils Rücken fuhr, als sie bereits die längste Zeit ihre Mahlzeit konsumierte. Später stand er am Fenster und sah mit glasigen Augen in den vom Schneetreiben gleichzeitig erhellten wie überschatteten Morgen.
Mortensen war kaum in der Lage, einen halbwegs kompakten Gedanken zu fassen. Genaugenommen war er damit beschäftigt, sich daran zu erinnern, wo er sich überhaupt befand. Das, was sich noch am deutlichsten in sein Bewußtsein drängte, war die Vermutung, daß es sich bei dem Schneesturm, auf den er blickte, um einen quasi russischen Schneesturm handelte.
Als er eine Stunde später vor die Tür ging, um die Zeitung zu holen, packte ihn die Kälte so kräftig, daß
Weitere Kostenlose Bücher