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Ein Sturer Hund

Titel: Ein Sturer Hund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Verdächtige, und verdächtig muß sie wohl sein, besitzt eine echte Begabung. Man sieht heutzutage nur noch selten Zeichnungen, die nicht dürftig wirken. In denen nicht die Hilflosigkeit regiert. Hier ist das anders. Die Frau hat es verstanden, das Bierglas so einzusetzen, daß man meint, es handle sich dabei um menschliche Gesichtsknochen. Und mit dem Bleistift hat sie praktisch eine Haut über die Knochen gezogen, Augen eingesetzt undsoweiter. Dabei wird eine Vorstellung dessen bewahrt, was hinter dem Gesicht liegt. Ohne daß jedoch der Effekt ein ekelhaft morbider wäre. Die Haut wirkt durchscheinend, aber nicht dünn. Der Kopf zerlegbar, aber nicht fragil. Wunderbar. Aber das ist dir ja sicher schon selbst aufgefallen.«
    »Eine gute Zeichnerin. Das scheint eindeutig. Aber was habe ich von ihr als Mensch zu halten.«
    »Da muß man wohl spekulieren. Das Bild ist ohne jeden Bezug zu einer gängigen Kunstform. Wer so arbeitet, lebt isoliert. Meine ich. Ich glaube nicht, daß diese Frau Ausstellungen besucht, in Katalogen blättert oder sich für irgendeine Kunstdebatte interessiert. Der realistische und akademische Stil darf nicht täuschen. Sie ist sowenig konservativ wie fortschrittlich. Das sind nicht die Kategorien, in denen sie sich bewegt. Ich denke, es wäre sinnlos, in Kunstvereinen und Malklassen nach ihr zu suchen.«
    »Sondern?«
    »Wie soll ich das wissen? Vielleicht arbeitet sie in einem Reisebüro oder besitzt ein orthopädisches Fachgeschäft. Nein, ich nehme das zurück. Wenn ich es mir recht überlege, glaube ich nicht, daß sie einen Beruf ausübt. Zumindest keinen konventionellen. Sie geht Menschen aus dem Weg. Sie bildet sie ab, und zwar in einer umgekehrt sezierenden Weise, meidet sie aber.«
    Cheng warf ein, daß die Frau den Mann, der auf dieser Zeichnung dargestellt sei, keineswegs gemieden habe. Leider Gottes. Eher scheine es so gewesen zu sein, daß sie sich an ihn herangemacht habe, um ihr Werk in einem radikalen Sinn zu vollenden.
    »Wer ist eigentlich der Porträtierte?« fragte Bodländer.
    »Ein toter, ein ermordeter Mann.«
    »Ist er gestorben, bevor oder nachdem er gezeichnet wurde?«
    »Sehr bald danach.«
    »Immerhin hat er dann noch miterleben dürfen, wie originell und gelungen er porträtiert wurde.«
    »Ich glaube kaum, daß er das bemerkt hat.«
    »Schade für ihn. Aber man kann immerhin sagen, daß er am Schluß seines Lebens im Dienst der Kunst gestanden habe. Wenngleich in passiver Form. Starb er auch für die Kunst?«
    »Ich bin gerade dabei, das herauszufinden. Übrigens wundert mich, daß du ihn nicht erkennst. Sein Foto hat einige Tage lang die Lokalseiten geschmückt.«
    »Nicht mein Thema. So wenig wie Nachrichtensendungen und andere Gewaltakte. Ich mache ja nicht nur Werbung, ich sehe mir auch nur Werbung an. Es wäre schließlich verrückt, würde ich nicht auf meine eigene Herzensbildung achten.«
    »Ja, ich hab schon gehört, wie wichtig dir unser aller Herzen sind«, sagte Cheng, wechselte aber wieder zum Grund seines Kommens: »So eine Zeichnung ist doch wie ein Personalausweis, denke ich?«
    »Wenn man die Zeichnung lesen kann, dann ja. Aber bei mir entsteht da bloß ein Gefühl.«
    »Raus damit«, forderte Cheng.
    »Auch wenn das ein Widerspruch zu dem ist, was du von dieser Frau weißt, so glaube ich doch, daß sie sich in irgendeiner Art von Anstalt, von Geschlossenheit befindet. Ob nun lückenhaft oder lückenlos. Es kann sich um ein Kloster handeln, eine psychiatrische Klinik oder ein Gefängnis. Ich will damit nicht sagen, daß ich an dieser Zeichnung etwas Pathologisches entdecken könnte, aber ich stelle mir diese Frau als eine Person vor, die aus ihrer Zelle die Welt betrachtet und abbildet. Alles und jeden vom Standpunkt ihrer Zelle. Biergläser genauso wie Männergesichter.«
    »Als sie diesen Mann gezeichnet hat, war sie mit Sicherheit in keiner Zelle.«
    »Keiner tatsächlichen, mag sein. Aber ich bleibe dabei: Du wirst sie in einer Umgebung finden, in welcher die Regeln einer geschlossenen Gesellschaft vorherrschen. Und in der die Menschen, obwohl als Gruppe vereint, jeder für sich sind. Ich würde auf Klosterschwestern tippen. Denen trau ich am ehesten einen Mord zu.«
    »Du spottest.«
    »Nein. Religion ängstigt mich. Ich halte Werbung und Autos für den besseren Weg, seinen inneren Frieden zu finden.«
    Cheng fühlte sich mit einem Mal unbehaglich. Er war unsicher, ob Bodländer auch meinte, was er sagte. Oder ob es nicht vielmehr so war,

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