Ein Sturer Hund
Tatvorgang entdeckt hatte. Der Kleinheit und Unschärfe des Fotos wegen konnte Cheng nicht gleich feststellen, was genau es war, das auf der Wasseroberfläche trieb.
Einen Moment dachte er, es müsse sich um seinen eigenen Schädel handeln, der in einer Art Vorausschau auf dieses Foto gelangt war. Allerdings resultierte diese Annahme aus der simplen Angst, eventuell im Austausch für einen zurückgewonnenen Unterarm einen ganzen Schädel opfern zu müssen. Nein, es war der Schädel von jemand anders. Bei dem zur Hälfte über den Glasrand ragenden Gesicht handelte es sich um eine Visage von hollywoodscher Ebenmäßigkeit. Das Polaroid schien an Schärfe zu gewinnen, als sei es eben erst in das letzte Stadium der Selbstentwicklung eingetreten. Gar keine Frage, es handelte sich um den Kopf von Hauptkommissar Rosenblüt. Cheng atmete auf. Ein Aufatmen, das deutlich durch seinen Körper hallte.
In diesen Hall mischte sich nun eine Stimme, die rasch näher gekommen war und den Träumenden von der Betrachtung des Rosenblütschen Leichenfragments ablenkte. Eine Stimme, die aus dem Radiowecker kam und Cheng in der Folge auch seinem Schlaf entriß. Er erhob sich und löste das Hemd vollends vom Körper. Dabei sah er an sich hinab und betrachtete seinen Bauch.
Alle Männer tun das. Sie beäugen ihre Bäuche und sind immer ein wenig fassungslos. Und zwar unabhängig davon, wie zufrieden oder unzufrieden sie mit ihren Bäuchen sind oder sein dürfen. Die Fassungslosigkeit besteht so oder so. Es ist, als erkenne man auf seinem Bauch ein fremdes Gesicht, so wie ja hin und wieder auf den Oberflächen von Monden und Planeten gesichtsartige Strukturen entdeckt werden.
Jedenfalls konnte Cheng feststellen, daß sein Bauch noch immer die Gestalt eines gespannten Leinens besaß, auf dem irgendwelche physiognomischen Züge es schwer hatten, zur Geltung zu kommen.
Mit einiger Geschicklichkeit schlüpfte Cheng in ein frisches, weißes Hemd, knöpfte es zu, strich sich ein wenig Parfüm auf Wange und Hals und zog schließlich sein Jackett über. Dann rief er nach Lauscher. Auch wenn dieser sich zunächst nicht rührte, unterließ es Cheng, seinen Ruf zu wiederholen oder um einen strengen Befehl zu ergänzen. Er wußte ja, daß der Hund ihn trotz seiner relativen Taubheit gehört haben mußte, oder den Aufbruch zumindest spürte, aber eben seine Zeit brauchte, um hochzukommen. Oder hochkommen zu wollen.
Als auch dies geschehen war, verließen Cheng und Lauscher das Zimmer, gingen nach unten, durchquerten den Hof, an der verwaisten Rezeption vorbei ins Gasthaus. So wie es Cheng am Nachmittag erschienen war, als breche der Fiat durch eine dünne Wand hindurch und wechsle damit abrupt vom Sturm zur Ruhe, war es nun umgekehrt. Von der Ruhe gelangte Cheng in einen Sturm aus Stimmen und Gerüchen. Beinahe ein jeder Tisch war besetzt. Der Großteil dieser Leute schien einer Reisegruppe anzugehören. Unterhaltungen zogen sich über mehrere Tische. Es wirkte alles ein wenig würdelos. Man redete, während man aß, weshalb das Gesprochene den Charakter halbzerkauter Speisen annahm. Cheng dachte: Die Bestien aus der Stadt überfallen das Dorf.
Am Stammtisch jedoch saßen noch immer dieselben Männer wie zwei Stunden zuvor. Ihre Gesichter hatten an Röte, Feuchte und Glanz gewonnen. Und ihr Ausdruck an Freundlichkeit. Sie nickten Cheng zu, als hätten sie ihm zwischenzeitlich eine Bedeutung zugeordnet, die er gar nicht besaß. Allerdings war es auch möglich, daß Anna Haug den Mund nicht hatte halten können, so daß Cheng nun mit dem virtuellen Stigma einer nicht ganz ungefährlichen Person durch die Gegend lief.
In einer strategisch günstigen Ecke des Raums saß Purcell am einzigen kleinen Tisch, der hier verfügbar war und auf den wahrlich nicht mehr als zwei Gedecke paßten. Als Cheng sich setzte, sagte Purcell: »Nettes Tischchen, nicht wahr? Da bleibt man wenigstens unter sich. Außerdem hat man von hier einen ganz ordentlichen Ausblick.«
Tatsächlich stand der Tisch in einer Nische, deren Boden leicht erhöht war. In diesem speziellen Ambiente, umso mehr, als die Vertiefung nach oben hin mit einem Spitzbogen abschloß, erinnerten die beiden Männer und der Hund an Altarfiguren, vermittelten einen geschnitzten und andächtigen, einen geweihten Eindruck. Allerdings hätte in dieser Nische auch eine Trockenhaube oder ein Sturzhelm eine sakrale Wirkung besessen.
»Dort drüben, hinten links«, deutete Purcell, indem er mit seinem Kopf aus
Weitere Kostenlose Bücher