Ein süßer Sommer
entschuldigte sich noch einmal.
«Sie hätten nur ein Wort sagen müssen, da wäre ich sofort still gewesen. Aber wenn ich einmal anfange und man lässt mich, kann ich nicht mehr aufhören. Wenn man redet, fühlt man sich nicht so allein. Meist ist ja jemand da, mit dem man spricht. Aber bei mir funktioniert das auch mit Selbstgesprächen.» Darauf folgte noch so ein Seufzer, ehe sie weiter sprach:
«Als ich noch klein war, habe ich mich einmal sehr gefürchtet. Mami war schwer krank, Krebs. Zuerst wurde sie operiert, dann bekam sie noch Bestrahlungen und eine Chemotherapie, ganz radikal, das volle Programm. Sie war lange in der Klinik und wurde immer weniger. So sagt man das doch, oder? Immer dünner, immer blasser, irgendwie sogar kleiner. Alle Haare fielen ihr aus, und ständig musste sie spucken. Ich hatte furchtbare Angst, dass sie stirbt. Da habe ich mir immer erzählt, dass sie bald nach Hause kommt, wieder ganz gesund und stark und lustig ist. Das half, und es funktioniert heute noch. Manchmal kann man Dinge herbeireden. Glauben Sie das?» Als ich den Kopf schüttelte, zuckte sie mit den Achseln.
«Man denkt aber nicht in die falsche Richtung, wenn man positiv spricht. Wenn man sich vor einer wichtigen Prüfung oder einer schweren Aufgabe sagt, ich schaffe das, dann schafft man es auch. Das können Sie mir glauben.» Anscheinend war ihr jetzt mehr danach, in die falsche Richtung zu denken. Und ihr Schweigen störte mich fast mehr als der vorherige Redefluss. Es passte nicht zu ihr, gab ihr einen Hauch von Schwermut, nahm ihr all das Unkomplizierte. So still und verloren am Fenster wirkte sie uralt, verbittert und vom Leben betrogen. So begann ich zu reden. Nicht über mich, ganz allgemein über die Stadt, in der ich aufgewachsen war, die ich wie meine Hosentasche zu kennen glaubte und für überschaubar hielt. Über das Gefühl, schon daheim zu sein, wenn ich den Dom nur aus der Ferne sah. Und ganz allmählich taute sie wieder auf. Nachdem ich erklärt hatte, dass ich mir gar nicht vorstellen könne, meiner Heimatstadt irgendwann einmal für immer den Rücken zu kehren, stellte sie ein paar Fragen. Nicht etwa nach meiner Person, daran schien sie in keiner Weise interessiert. Aber es kamen auch nicht die üblichen Fragen nach Sehenswürdigkeiten oder dem Kölner Nachtleben. Selbst die Verschmutzung des Rheinwassers war plötzlich nicht mehr von Belang. Candy wollte vielmehr wissen, ob ich das Cranachwäldchen kenne, es müsse irgendwo am Rheinufer liegen. Ich nickte wieder, sagte sogar:
«Das kenne ich sehr gut.» Das Cranachwäldchen lag nämlich nicht irgendwo, sondern nahe dem Niehler Hafen und ganz in der Nähe meiner Wohnung.
«Da will ich übernachten», erklärte sie. Das hielt ich für keine gute Idee, ein Mädchen mit siebentausend Mark am Leib ganz allein am Rheinufer und ausgerechnet im Cranachwäldchen. Dort war vor Jahren die Leiche einer jungen Frau gefunden worden. Das erwähnte ich ja eingangs schon. Hartmut Bender hatte mir davon erzählt, kurz nachdem ich meine Wohnung am Wiener Platz bezogen hatte. Hartmut war, bevor er zur Agentur Hamacher wechselte, Reporter bei der Kölnischen Rundschau gewesen. Er hatte selbst über den Leichenfund berichtet, allerdings keine genaue Zeitangabe gemacht. Es konnte zehn, fünfzehn Jahre oder noch länger zurückliegen. Auf den ersten Blick ein Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Nur war die Frau zweimal überfahren worden.
«Das tut keiner, der versehentlich einen Menschen anfährt», hatte Hartmut gesagt.
«So einer gibt Gas und lässt sein Opfer auf der Straße liegen. Er setzt nicht zurück und rollt nochmal drüber, um sicherzugehen.» Auch die Polizei war von einem Verbrechen ausgegangen. Wahrscheinlich eine Anhalterin, die möglicherweise vergewaltigt und dann eben ermordet worden war. Anschließend hatte der Täter die Leiche zig Meter weit hinter den Stein geschleppt, der den Stromkilometer markierte. Der Täter war nie gefasst worden; soweit Hartmut wusste, hatte man nicht einmal die Identität des Opfers klären können.
«Such dir lieber eine Pension», sagte ich.
«Warum?», fragte Candy.
«Zur Sicherheit», sagte ich.
«Ist es im Cranachwäldchen unsicher?»
«Manchmal schon», sagte ich und erzählte ihr, was ich über den Leichenfund wusste, ohne meinen Kollegen als Informationsquelle zu nennen. Woher ich die Details kannte, interessierte Candy auch nicht. Sie zeigte den Ansatz eines ungläubigen Lächelns und sagte:
«Ehrlich? Das
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