Ein süßes Abenteuer
Abends hielt er es durchaus für möglich, dass Madame Josettes Schläger Sir Neville ermordet hatten.
In Wirklichkeit lebte Neville zwar noch, doch als er am Morgen erwachte, wollte er tatsächlich am liebsten sterben.
Mit hämmerndem Kopf und heftigen Gliederschmerzen lag er in einer vergitterten Zelle, neben vier weiteren Unglücklichen, die ebenfalls stark nach Alkohol rochen.
“Wo sind wir?”, stöhnte er.
“Was glaubst du wohl?”, brummte einer seiner Zellengenossen. “Im Gefängnis, natürlich. Wir warten darauf, dass wir vor den Richter kommen.”
“Vor den Richter? Weswegen?”, wandte Neville mit schwerer Zunge ein. Da er sonst nur maßvoll zu trinken pflegte, litt er wegen der großen Menge Whisky, die man ihm eingeflößt hatte, an einem starken Kater.
“Na, wegen Trunkenheit in der Öffentlichkeit.”
Mühsam versuchte Neville, sich die Ereignisse des Vorabends ins Gedächtnis zu rufen. Seine Flucht aus Madame Josettes Etablissement, die Fausthiebe, die Tritte … danach setzte seine Erinnerung aus.
“Aber ich betrinke mich niemals!”, protestierte er schwach.
Da brach sein neuer Freund in schallendes Gelächter aus. “Erzähl das mal dem Kadi, mein Lieber! Wirst schon sehen, ob es dir etwas nützt.”
Neville schüttelte den Kopf, um seine Benommenheit loszuwerden. Dann setzte er sich auf und blickte an sich hinab. In der Tat, er roch nicht nur nach Whisky, sondern seine ganze Kleidung war damit besudelt. Außerdem sah er aus, als ob er sich in der Gosse gewälzt hätte.
“Ich erlebe so etwas zum ersten Mal”, bekannte er. “Was wird mit uns geschehen?”
“Man wird uns in eine Besserungsanstalt stecken und uns verwarnen, damit wir in Zukunft nicht mehr über die Stränge schlagen.”
Vor Entsetzen verschlug es Neville die Sprache. Großer Gott, was sollte er bloß tun? Unglücklicherweise gab er im Augenblick keine bessere Figur ab als die anderen Jammergestalten in dieser Zelle. Während er auf die Konstabler wartete, die ihn vor den Richter führen sollten, suchte er fieberhaft nach einer vernünftigen Erklärung für seine Lage.
Die wahre Geschichte durfte er leider nicht erzählen. Selbst wenn er aussagte, man habe ihn brutal überfallen, erklärte das noch lange nicht seinen betrunkenen Zustand. Oder was er überhaupt in diesem verkommenen Viertel zu suchen hatte, wo ein Mann jegliches Laster befriedigen konnte.
Ihm blieb nicht viel Zeit zum Nachdenken, da schon bald zwei stämmige Konstabler erschienen. Einer von ihnen zerrte Neville auf die Füße, während er die übrigen Gefangenen anbrüllte: “Na los, kommt. Heute sitzt der Herrgott persönlich über euch zu Gericht, also benehmt euch gefälligst.”
Mit vereinten Kräften gelang es ihm und seinem Kollegen, drei der Zecher im Gänsemarsch aus der Zelle zu lotsen. Den vierten, der immer noch schlief, ließen sie einfach zurück. Bald darauf betraten sie den Gerichtssaal, und die Verhafteten zwängten sich auf die harte Anklagebank auf der einen Seite des Raumes. An der gegenüberliegenden Wand stand der gewaltige Richtertisch. Entgeistert stellte Neville fest, dass er den Mann an diesem Tisch kannte.
Kein anderer als Sir Stanford Markham leitete diese Verhandlung! Das erklärte natürlich die Anspielung des Konstablers … Und im Hintergrund hielten sich zwei Mitglieder der Nachtwache bereit, um zu bezeugen, in welchem Zustand sie die Gefangenen aufgelesen hatten.
Noch bevor Neville die Fassung wiedergefunden hatte, wurde er als Erster vor den Richter geschoben. Da er zumindest versuchen wollte, an Sir Stanfords Gnade zu appellieren, setzte er zum Sprechen an, doch der erste Konstabler versetzte ihm eine Kopfnuss. “Ruhe! Jetzt kommt der Zeuge an die Reihe.”
Ungerührt berichtete einer der Nachtwächter, ein gewisser Jonty Beagle, der Gefangene habe volltrunken in einer Gasse nahe des Haymarkets gelegen.
Die ganze Zeit über würdigte Sir Stanford den Gefangenen keines Blickes, auf jeden Fall hatte er Neville mit Sicherheit nicht wiedererkannt. “Ihren Namen, Mann, und zwar schnell”, befahl er gelangweilt.
Was sollte Neville nun sagen? Einen falschen Namen anzugeben wäre reine Dummheit, zumal niemand, nicht einmal Lem, wusste, wo er sich befand. Wenn er nun tatsächlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, was dann? Sein Verschwinden würde zum Stadtgespräch werden. Nein, am klügsten schien es ihm, sich an die Wahrheit zu halten. Doch er hatte bereits so lange gezögert, dass Sir Stanford
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