Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
schon begabt, skurril, aber man dachte, sie könne sich nicht durchsetzen – Aufträge als Bühnenbildnerin hat, schöne Sachen macht und empört erzählt, wie ihnen im Theater unterm Dach die Geschäftsführerin Teile ihres offenbar sehr linkslastigen Bühnenbildes abgehängt hat. Am liebsten möchte sie sich darüber beim Bürgermeister beschweren. Von ihrem damals ganz kleinen Sohn, der schwer Asthma hatte und von einem Homöopathen geheilt wurde, erzählt sie, daß er in einer Wohngemeinschaft in Prenzlauer Berg wohnt, die ihn vollkommen umsonst erhält, und daß er in einem Raum, den er für sich hat, Massen von Knetfiguren herstellt, die wunderbar sein sollen, die er aber nicht vermarkten will, weil er mit dieser Geldgesellschaft nichts zu tun haben will und ganz anspruchslos lebt. Die anderen sehen ihn als ihren »Sozialfall« an und es als ihre Aufgabe, ihn mit durchzubringen.
Auch Barbara Buhl aus Köln, die wir jahrelang nicht gesehen haben und die in Tegel gelandet ist, wird von irgend jemandem aus Berlin mitgebracht. Wir hatten ganz früh einmal mit ihr zu tun, als sie am liebsten eine Erzählung von mir fürden WDR verfilmt hätte, dann sahen wir sie nach der verunglückten »Eulenspiegel«-Premiere in Hannover, Tinka blieb mit ihr in Kontakt. Sie bringt ihre etwa zehnjährige Tochter Leonie mit, die sofort Freundschaft mit einem anderen Mädchen schließt, sich in das Haus und in die Landschaft verliebt und am übernächsten Tag wehmütig Abschied nimmt. Zeitweise sind wohl an die zwanzig Kinder da, die die Wiese bevölkern. Thomas Jeutner aus Greifswald, der jetzt Pfarrer in Hamburg ist, kommt mit seinem Sohn, sie beide bilden eine eigenständige Musikkapelle mit Schlagzeug, Mundharmonika und Klarinette. (Sie kommen am nächsten Spätnachmittag zum Einsatz, als eine Gruppe von Tinka-und-Martin-Freunden, deren Kern Ruth und Hans Misselwitz, Marina Beyer und Gerhard Rein sind, vor dem Haus ein geistliches Tribunal aufführt, das darüber entscheiden soll, ob die Heilige Katharina und der Heilige Martin im Status der Heiligkeit bleiben oder auf die Erde zurückversetzt werden sollen.)
Ralli, Tinkas erster Freund, kommt mit seinem großen schwarzen Hund Willy, zwischen ihnen herrscht eine gegenseitige Liebe und Abhängigkeit. Er verschenkt kleine von ihm bemalte Pappkärtchen und erzählt mir über die Arbeit in einer Behinderteneinrichtung, die ihn ziemlich aushöhlt. Aber einmal im Monat nimmt er an einem Workshop teil, bei dem es um Familienaufstellung geht, die ihn sehr überzeugt.
Wir verbringen die Stunden bis Mitternacht im Gespräch: Tinkas Geburtstag soll abgewartet werden. Als es zwölf schlägt, kommt Ivo mit einem großen, mit grünem Kreppapier beklebten Tablett herein, das von brennenden Kerzen umsäumt ist. In einem Karton ist eine aus Biskuitteig gebackene und mit Schokolade überzogene 100. – Wir schenken außer einer Bekleidungsmontur für Tinka und Leinenhemden für Martin ein verlängertes Wochenende in Rom. Martin schenktTinka eine schöne Kette mit einem durchsichtigen Stein, es gibt eine Menge anderer Geschenke. Im Hintergrund regeln Timo und Anton die Musik. Natürlich wird Sekt ausgeschenkt. Die Stimmung kommt noch einmal hoch. Aber dann werden wir alle müde und gehen vor eins ins Bett.
Sonnabend, 27. September 2003
Berlin
Es ist elf Uhr, ich habe nach der Zeitungslektüre und den Aufräumarbeiten in der Küche dem beinahe unwiderstehlichen Drang, mich hinzulegen und zu schlafen, doch widerstanden. Die Wäsche mußte aufgehängt werden, unter Schweißausbrüchen, die mir signalisierten, daß die Erkältung doch noch sehr virulent ist, dazwischen immer wieder Hustenanfälle, die merkwürdigerweise vollkommen aussetzten, als ich gestern nachmittag eine halbe Stunde bei Maischberger in der Sendung saß, und die sofort wieder einsetzten, als das Mikro ausgeschaltet war.
Das ist nun also der erste »Tag des Jahres«, nachdem das Buch mit den einundvierzig Jahrestagen heraus ist und relativ erfolgreich zu werden verspricht, was heißt: Es verkauft sich bis jetzt gut. Allerdings bin ich gegenüber einem Erfolgsgefühl, besonders aus solchen Gründen, resistent. Im Gegenteil: Heute nacht, als ich zur Toilette mußte, kam in mir wieder die Frage hoch: Haben diese Aufzeichnungen, wenn ich sie jetzt weiterführe, ihre Unschuld verloren? Dadurch, daß ich sie den Blicken der Welt ausgesetzt habe? Ja und nein, glaube ich. Ja, weil mir nun »alle Welt« über die Schulter
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