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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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schaut. Nein, weil ich entschlossen bin, mit diesen Blättern in mein Versteck zurückzukriechen und sie nicht, sozusagen als Fortsetzung, zu veröffentlichen.
    Ich konnte wieder einschlafen, anders als vor zwei Tagen nach der Buchpremiere in der Akademie der Künste, die michdann doch mehr aufgeregt und angestrengt hatte, als ich selbst es wußte. Todmüde, wie ich war, konnte ich den Film nicht anhalten, der hinter meinen Augen lief: Das Riesenauditorium, nach beiden Seiten hin geöffnet, siebenhundert Leute, der Beifall, der überhaupt kein Ende nahm, das Zusammensein mit Eingeladenen im Clubraum, von denen einige mir rieten, ich solle das doch nun mal »genießen«. Fällt mir ja schwer, ich frage mich immer, ob ich da nicht auf der falschen Party bin … Ich mache mir klar, daß der Tag heute so verlaufen wird, wie ich ihn am liebsten habe: Ohne Termine und Verpflichtungen. Ich zähle in Gedanken die Interviews auf, die ich, vom Verlag gedrängt, der Random House gegenüber mit einem Bestseller antreten möchte, gegeben habe: »Brigitte«, »Spiegel«, »Tagespiegel«, WDR , »Börsenblatt«, RBB , Maischberger – es ist viel für meine Verhältnisse, zu viel, und ich spüre schon die Aushöhlung durch die immer gleichen Fragen und die auf Öffentlichkeit zugeschnittenen Antworten. Kommt noch die Lesung im BE am »Tag der deutschen Einheit« und, schlimm genug, die Buchmesse. Und zwischendurch immer die Sorge, ob Gerd das alles durchhalten wird, der ja seit seinem Schwindelanfall an dem vorletzten Ahrenshoop-Tag nicht völlig intakt ist – anders als ich, die ich, von der blöden Erkältung abgesehen, ganz gut erholt zurückgekommen bin …
    Morgens beim Aufwachen verschweige ich Gerd, daß heute der 27. September ist (er hat es bis jetzt nicht gemerkt), er las in den Aufzeichnungen von Ulrich Dietzel über seine Erfahrungen zuletzt als Direktor der Ost-Akademie der Künste, ganz interessant, sagt er, am meisten habe er mit Hermlin zu tun gehabt. Ich greife nach dem Buch, das obenauf auf meinem Bücherstapel auf dem Nachttisch liegt: Wolfgang Büscher, »Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß« – verzichte alsodarauf, was sehr selten ist, den Krimi der Marinina (»Anastasijas achter Fall«) zu Ende zu lesen, weil er zu konstruiert und routiniert und eigentlich langweilig ist. Der Moskau-Fußmarsch des Journalisten liest sich dagegen gut – vielleicht manchmal stilistisch etwas zu sehr literarisiert –, er erzählt berührende und fast unglaubliche Geschichten zum Beispiel von einer polnischen Gräfin; ich hatte gehofft, er würde über Landsberg kommen, aber er nahm die nördlichere Route über Schwerin, die in umgekehrter Richtung im Januar 1945 mein Vater mit dem Gefangenentransport gegangen ist … Büscher erzählt von dem mit Leichen gedüngten Boden auf den Seelower Höhen. Mir fällt ein, daß die Vorsitzende der Heimatvertriebenen, Frau Steinbach, vor mir bei Sandra Maischberger war und sich mit einem gefühlvollen Gedicht ins Gästebuch eingeschrieben hatte. Sie will unbedingt ein Vertriebenendenkmal in Berlin – politisch absichtlich instinktlos, finde ich. Maischberger sagt: Sie war gar nicht vertrieben, wie etwa Sie, sondern Tochter eines Mitglieds der deutschen Besatzungsverwaltung in Polen während des Krieges.
    Um acht steht Gerd auf, ich sage: Komm noch mal her, Karlade! Ich will ihn anfassen. Wir wissen beide nicht, woher das Wort »Karlade« kommt, aus dem Thüringischen sicherlich, früher haben wir es oft zueinander gesagt. Gerd bietet mir an, doch noch bis neun zu schlafen, das geht aber nicht. Nach dem Duschen, Anziehen stecke ich die Wäsche in die Maschine. Die Schlagzeile in der »Berliner Zeitung«: »Kanzler büßt Autorität ein« – gemeint ist, daß trotz massiven Drucks sechs Abgeordnete der SPD im Parlament gegen die Gesundheitsreform gestimmt haben. »Die Union verpaßt die Chance zum Kanzlersturz«. Im Radio höre ich, die Abweichler aus der SPD würden zur Rede gestellt werden. Jemand schlägt ihnen sogar vor, auf ihr Mandat zu verzichten. Heißt es nicht imGrundgesetz, die Abgeordneten seien nur ihrem Gewissen verpflichtet? – DDR -Killerkommando der Stasi soll »Verräter« im Ausland getötet haben. – Manfred Krug läßt sich im »Magazin« in einem langen Interview darüber aus, was für ein Tausendsassa er doch ist. – Die Aufführung des Musicals »Les Misérables« war am Theater des Westens das gesellschaftliche Ereignis des gestrigen Abends.

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