Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
wohin der Hase bei ihm läuft, und Jana und Frank sind gestandene Journalisten, manchmal schon ein wenig zu sehr in diesen Berufswirbel und seine Gesetze eingebunden. Und Martin hat sich zu einem veritablen Mitarbeiter entwickelt, hat die äußere Erscheinung meines Buches gestaltet und vor allem die Collagen gemacht, die eingestreut sind. Er hat uns auch von Ahrenshoop abgeholt, als Gerd sich nicht trauen konnte, mit dem Auto zu fahren.
Aber was soll diese Aufzählung, der, wie diesem ganzen uninspirierten Text, die Seele fehlt …
Trotzdem weiter. Kurz vor Mittag – jetzt, es klingelt gerade – kommt eine junge Frau, die Tochter des Herrn Mülleraus der Pfalz, der Arzt ist, mit einer Gruppe von Leuten jährlich Kulturveranstaltungen ausrichtet, einmal waren auch wir da, mit ihm fuhren wir rüber ins Elsaß, aßen unseren ersten Flammkuchen; er schickt öfter zwei Flaschen des Pfälzer Weines, diesmal durch seine Tochter Babette, eine sehr sympathische, frische, natürliche junge Frau von Mitte zwanzig, Assistenzärztin in Friedrichshain. Ja, sie müßten viel arbeiten, sagt sie, aber schlimmer sei die starre Hierarchie, die älteren Ärzte kommunizierten überhaupt nicht mit ihnen, nie werde der Krankheitsverlauf eines Patienten diskutiert, höchstens kriegten sie manchmal zu hören, sie, die Älteren, hätten früher noch viel mehr gearbeitet als heute die Jungen. Ich schenkte ihr »Leibhaftig«, sie ließ sich das neue Buch für ihre Mutter signieren.
Inzwischen ist die Post gekommen. Einladungen, die gleich in den Papierkarton wandern. Ich soll an einer Beiratssitzung von INKOTA teilnehmen. Soll im nächsten Jahr Patin für ein Kölner Literaturfestival werden (was nicht geht – das Festival fällt genau auf meinen 75. Geburtstag). Ein Autor sendet mir sein literarisches Erstlingswerk, das meine Erzählung »Kassandra« »weiterspinnt«. Zwei rührend freundschaftliche Briefe von Ellen und Jörg Jannings, die mit bei der Akademieveranstaltung waren und ihre Gefühle schildern. Und dann, wie meistens jetzt, ein Autogrammwunsch – meine Adresse muß da auf einer Liste stehen, die die Autogrammjäger, die natürlich meistens keine Zeile von mir gelesen haben, abarbeiten. Ich habe für solche Fälle ein Blatt mit dem Text: »Frau Wolf vergibt keine Autogramme außer bei Lesungen in ihre Bücher.« Aus irgendeinem Grund beleidigen mich diese Autogrammwünsche.
Ich bin wahnsinnig müde, huste, nehme alle möglichen Lutschtabletten, »es sitzt mir im Kreuz«, aber im Bett bleibenwäre auch nicht das Richtige. Die Kartoffelsuppe schmeckt, natürlich denken wir bei diesem Rezept immer an Frieder Schlotterbeck, ach, manche Menschen fehlen uns doch sehr. Ich kann die Reihe der Toten vor meinem inneren Auge vorbeiziehen lassen, Heinrich Böll, Anna Seghers, Aenne und Frieder Schlotterbeck, Max Frisch, Raja und Lew Kopelew, Otl Aicher, Inge Aicher-Scholl, Efim Etkind, Adolf Dresen, Thomas Brasch: »What a seed!« Welch ein Reichtum von Begegnungen und Anstößen, einfach von Menschlichkeit. Verklärt man die Erinnerung? Ist jetzt wirklich eine Substanz von Menschlichkeit verlorengegangen?
Hinlegen, endlich. Ich begleite den Moskau-Wanderer bis vor Minsk, schlafe. Als wir beide wach sind, haben wir keine Lust, aufzustehen, lesen noch in unseren jeweiligen Büchern. Er wisse eigentlich nicht, was mit mir los sei, sagt Gerd, ich hätte mich in Ahrenshoop so gut erholt, und nun sei alles wieder weg. Ich müßte doch eigentlich auf Wolken gehen … Er weiß ja genau, was »mit mir los« ist, und ich weiß es auch, aber das will ich am wenigsten erörtern, ich ermanne mich also, stehe auf, koche Tee, nehme den Baumkuchen mit rein »ins große Zimmer«, schmeckt gut, sagt Gerd, wenn er so frisch ist. Wir sehen im Fernsehen, wie eine Schwarzwälder Kirschtorte hergestellt wird, mit Unmengen von Sahne, und dann einen Film aus einer Arztserie, in der Karin Gregorek, die doch Hacksens Geliebte war, eine zickige herzkranke Gräfin darstellt und vom Chefarzt umgarnt wird und sich dagegen sträubt, daß der junge Graf die junge Hausdame heiraten will. – Ja, wo leben wir denn! sagen wir, aber das wissen wir ja, im Land des fortschreitenden Sozialabbaus und der fortschreitenden Reaktion. Die bürgerlichen Freiheiten sind mal wieder in die bourgeoisen »Freiheiten« gekippt. Ist ja auch bequemer, sich mit einer Gräfin über die schlechten Manierendes Personals zu grämen, als sich mit den Gründen für vier Millionen
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