Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
nicht viel. So bin ich also doch immer noch abhängig von der Meinung der Leute? Weniger, sage ich mir, viel weniger als früher. Aber eben doch …
Es ist fast vier Uhr. Schließlich nehme ich eine Faustan, sie wirkt langsamer und weniger stark, als ich gehofft hatte, um halb acht bin ich wieder wach und weiß gar nicht, ob ich so richtig geschlafen habe. Der Wanderer in dem Buch nähert sich der russischen Grenze. Heute ist der 28. September.
Montag, 27. September 2004
Berlin
Nachts um halb drei erwache ich in einem Traum. Wir, Gerd (der undeutlich bleibt) und ich, laufen in einer Art Gartengelände herum und wissen, wir sollen »weggebracht« werden, warum und wohin, bleibt unausgesprochen, es sind auch gar keine Leute da, um uns »wegzubringen«, aber es steht uns Ungutes bevor. Unser größter Kummer: Wie sollen wir es »den anderen«, den Kindern, mitteilen, wo wir sind? Eine Möglichkeit fällt uns ein: Wir könnten ihnen ein Blumenarrangement hinterlassen, das sie verstehen würden. Wir graben zwei runde Löcher in die Erde, in das eine stecken wir einen großen runden Strauß knallgelber Blumen, in das andere sollen kobaltblaue Blumen kommen, aus irgendeinem Grund würde diese Farbzusammenstellung die Nachricht übermitteln. Aber blaue Blumen sind nicht da. Wir finden blaßlila Blüten, phloxartig, ich pflücke eine und betrachte sie prüfend, ob sie ihren Zweck erfüllen würde. Da bricht der Traum ab. Er war außerordentlich farbenprächtig.
Ich gehe zur Toilette. Ehe ich wieder einschlafen kann, geht mir einiges durch den Kopf, den ich am liebsten leer halten möchte. Zuerst immer wieder Benni, seine Krankheit, der große Kummer dieses Jahres. Wie immer, wenn ich an ihn denke, schicke ich ihm heilsame Gedanken. Ich verbiete mir Pessimismus, aus Selbstschutz und aus Aberglauben. – Dann der fast komische Umstand, daß wir durch mein neuerliches Vorhofflimmern gehindert wurden, unsere lange geplante undgründlich vorbereitete Kur anzutreten. Diese Nacht hätten wir ja, nach dem sonntäglichen Bahnreisetag, schon in der Kurklinik im Berchtesgadener Land verbringen sollen. Merkwürdig schwach war unser Bedauern darüber, daß wir nicht fahren konnten, denke ich. Ich empfand, fast erleichtert und plötzlich sehr ruhebedürftig: Ah, zwei Wochen allein zu Hause ohne Termine! Und Gerd sagte: Kann ich wenigstens in Ruhe arbeiten (er meint an den Vorbereitungen zu einer Biographie über Carlfriedrich Claus). An einem Vormittag machten wir alle Vorbereitungen rückgängig, anscheinend mit geringem finanziellen Verlust. – Schließlich stieg noch die Problematik meines bevorstehenden Verlagswechsels in mir auf. Der Zweifel, ob wir das am Sonnabend im »Olivenbaum« mit Thomas Sparr besprochene Statement für die Öffentlichkeit wirklich herausgeben sollten, ehe ich feste Bedingungen mit Suhrkamp ausgehandelt habe; ob dadurch nicht Klaus Eck von Random House sich noch bockiger anstellen würde. – Es sah nicht so aus, als ob ich wieder einschlafen würde. Dann gelang es doch.
Um halb sechs wieder wach, diesmal ernsthaft. Nach einiger Zeit griff ich nach dem Buch von Günter Gaus, das auf dem Nachttisch lag: »Widersprüche. Erinnerungen eines konservativen Linken«. Gerd hatte auch angefangen zu lesen: In der neuesten Biographie über Augstein. Bei mir war das Wehner-Kapitel dran. Wieder empfand ich: Es ist der Glanz- und Höhepunkt des Buches. Lebhaft stand mir der Abend bei Maria Sommer im letzten Winter vor Augen, an dem er uns dieses Kapitel vorlas. Froh war ich, daß wir ihn aus vollem Herzen dafür gelobt hatten, was er ja so dringend brauchte. Auch beim Wiederlesen erschien mir dieses Kapitel bewegend in seiner Einfühlung in einen hoch widersprüchlichen und schwierigen Menschen, nobel und anständig. Literarisch im gutenSinn – was die meisten anderen Kapitel nicht sind –, weil es unverstellt die Nähe des Autors zu Wehner deutlich macht, Gefühlsäußerungen nicht scheut (wie sonst meistens). Die Trauer um Gaus kam wieder in mir auf. Er ist nicht zu ersetzen als Freund, als eloquenter, manchmal durchaus schwieriger Gesprächspartner, als Beipflichtender und Widerpart, als Erzähler, der uns die alte Bundesrepublik etwas besser verstehen lehrte. Das tut übrigens auch dieses Buch – und es bekräftigt und untermauert, was wir oft an ihm erlebten: daß er zeitweilig in der alten Bundesrepublik ein »großer Zampano« gewesen war, und wie er litt, als er es nach der Wende nicht mehr
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