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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Arbeitslose auseinanderzusetzen.
    Es ist schon halb sechs, als ich an diesem Text weiter bastele. Da äußerlich heute tatsächlich nichts passiert – ein Anruf von Karin Kiwus, ob wir ihr noch Karten für die Mueller-Stahl-Veranstaltung besorgen können –, sollte ich wohl mal in mich reinhören. Ist vielleicht dieses letzte Buch wirklich mein letztes? Einfach, weil die Reibungen, die ich erlebe, mich nicht tief genug angehen und daher keine Funken schlagen, die ein kreatives Feuerchen entzünden könnten? »Leibhaftig« war ein Nachschlag, dieses Thema gibt kaum noch etwas her. Manchmal denke ich, die direkte Wendezeit, die Untersuchungskommission, das alles ist von mir noch nicht wirklich aufgearbeitet. Doch fehlt auch hier der Einfall, der den Stoff organisieren könnte. Ein Mann, dessen Zwiespalt mit Tod endet? Ich muß wohl warten, in der Zwischenzeit Handreichungen für neue Zwischenbücher machen: Briefwechsel mit Anna Seghers, Briefwechsel mit Charlotte Wolff – alles nichts Neues. Aufarbeitung von vorliegendem Material. Muß wohl auch sein, beflügelt aber nicht. »Stadt der Engel«? Scheint weit weg zu sein. Muß es mir noch mal mit neuen Augen ansehen. Unfruchtbare Zeiten. »Auf Wolken gehen?« Na, mein Lieber!
    Die Sonne schleicht sich um meinen Arbeitsplatz am Computer herum. Jemand ruft an und möchte am liebsten am Wochenende kommen, um sich Bücher signieren zu lassen, wird abgewiesen: Was zuviel ist, ist zuviel. Nach sieben beginnen wir Abendbrot zu machen – die herrlichen Steinpilze vom Markt und dazu dünne Nudelchen. Guten Weißwein. Während wir essen – »mit schmatzendem Behagen«, wie Frieder immer sagte –, ruft Helene an: Sie habe eine unangenehme Mitteilung. Beim Lesen in meinem Buch sei ihr aufgefallen,daß bei den Anmerkungen unter der Jahreszahl 2000 die Anmerkungen für 1999 stehen und daß die für 2000 überhaupt fehlen. Schreckmoment. Gerd kontrolliert sofort, stellt fest, daß es für 1999 keine Anmerkungen gab und die von 2000 unter die falsche Jahreszahl gerutscht sind. Wir rufen Martin an: Ob das bei der zweiten Auflage zu korrigieren sein wird? Wir müssen gleich Montag mit dem Verlag sprechen. Martin gibt noch ein paar Fehler durch, die ihm bei der Lesung aufgefallen sind, einige waren Sprech- oder Hörfehler, den einen – daß ich die Türme des Kölner Doms mit »Stalaktiten« anstatt mit »Stalagmiten« vergleiche – werde ich stehenlassen. Martin meint, Tinka und er würden um Mitternacht noch auf sein, wenn ihr Geburtstag beginne; wenn ich dann noch anrufen wolle …
    So lange kann ich nicht wach bleiben. Ein Krimi, bei dem am Ende die verschleppte junge Rumänin, die zwischendurch ihr Gedächtnis verloren hatte, gerettet und in ihre Heimat zurückgeschickt werden kann. Ein paar Minuten der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises, bei dem alle die Bildschirmgesichter in einem Saal versammelt sind und man stark das Gefühl von Inzucht hatte, ein paar Fetzen von Sportereignissen. Ein längerer Ausschnitt aus einem alten DDR -Film: »Der Staatsanwalt hat das Wort«, in dem ein junger Rolf Hoppe als Oberförster, eine junge Lissy Tempelhof als seine (betrogene) Ehefrau und eine junge Angelika Waller als seine Geliebte auftraten. Ach ja. Nicht Ostalgie, eher Heiterkeit kam auf. Das gab es alles.
    Ich muß ins Bett. Tinka anrufen. Sie ist beim Kofferpacken und sieht einen Film, den wir auch suchen, den ich dann aber ausschalte, als er gewalttätig zu werden droht. Guten Flug, sage ich. Gratulieren kann man ja noch nicht. Nächsten Sonntag werden wir, um alle die nahe beieinanderliegenden Familiengeburtstage in ihrer Sippe zu begehen, zusammen brunchen. Wo, das soll Helene herausfinden.
    Im Bett lese ich noch ein paar Seiten in dem Buch, das sich immer noch in Weißrußland bewegt – im Reich Lukaschenkos, in dem die Leute nicht mehr glauben, daß es je besser werden kann. Ich halte nicht lange durch, muß schlafen. Leider wache ich, von merkwürdigen Tierbildern aus einem Traum getrieben, mitten in der Nacht auf und merke nach längerer Zeit, daß es wieder mit dem Einschlafen nichts wird. Nun holt mich doch das Gespräch mit der Maischberger ein, läuft in mir ab, ich frage mich, ob ich nicht zuviel, nicht das Falsche gesagt, mich zu sehr preisgegeben habe. Schön wäre es, wenn ich die Sendung gar nicht sehen müßte, aber das wird Gerd nicht gestatten. Ich sage mir, all dieses Gesprochene und Gesendete ist schnell vergessen, heute nacht nützt es mir

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