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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Eine lange Liste der Promis, die dabei waren. (Auch wir waren eingeladen, sind natürlich nicht gegangen, wie wir zu fast allen Events nicht gehen, zu denen wir täglich gehen könnten.) – Morgen ist wieder der Berlin-Marathon mit 35 000 Teilnehmern – unter ihnen Volker Schlöndorff. – Jürgen Habermas und protestierende Studenten eröffnen die Adorno-Konferenz in Frankfurt.
    Gestern war nach einem gloriosen, gar nicht aufhörenden Sommer vielleicht der letzte wirklich warme Sommertag. Ich werde heute nicht rausgehen, wegen des Hustens, aber ich sehe draußen das immer noch sonnige Wetter, wenn auch, das merke ich, sobald ich das Fenster öffne, die Luft rauher geworden ist, und ich sehe die fast noch unangegilbten grünen Bäume. Wieder ein Sommer vorbei. Wie oft noch – die Frage läuft immer mit. Wir sprechen sie nicht aus.
    Gerd kommt von einem seiner beinahe täglichen Einkaufsgänge zurück, er sieht mich am Computer: Was machst du da? – Heute ist doch der 27. September! – Ah – gut! sagt er. Dann zähl mal auf, was du in letzter Zeit alles gemacht hast. Und beschreib auch die Kiste mit Mueller-Stahl.
    Diese »Kiste« ist ein etwas hochgestochenes Vorhaben der Amalienpark-Galerie, die Gerd mit verantwortet, und der Buchhandlung Saavedra: In der Galerie sind Bilder und Grafiken von Mueller-Stahl ausgestellt, und am 2. Oktober soll er hier lesen – natürlich in der Kirche, weil kein anderer Raum in Pankow groß genug für ihn ist. Nun hat er sich tagelang nichterreichen lassen, bis er gestern anrief, mich am Telefon hatte, ich ihm sagte, was man unbedingt wissen mußte: Ob er von der Kanzel lesen werde oder von einem Podium aus, im Sitzen. Er wollte sitzen und verwickelte mich noch in ein Gespräch darüber, daß wir uns in L .  A . leider nicht begegnet seien und daß er mir gern den Rücken gestärkt hätte wegen der ungerechten und schamlosen Kampagne, die damals in Deutschland gegen mich gelaufen sei. – Nun, immerhin. – Später rief er dann Gerd an und verlangte ein höheres Honorar – Grass habe schließlich auch mehr bekommen. Die Buchhandlung und der Verein haben natürlich kein Geld, heute hat Frau Saavedra ihn davon überzeugen können, daß auch Grass nicht mehr bekommen und daß er sein Honorar dann sogar noch der Buchhandlung gespendet hat. Da wurde es dann wohl ein etwas kleinlauterer Armin Mueller-Stahl. – O diese Diven …
    Gerd hatte Suppengrün eingekauft, setzte es an für die Kartoffelsuppe, die ich mir gewünscht hatte, packte seine Einkäufe aus, er hatte eine FAZ mitgebracht, hatte wohl erwartet, daß eine Rezension zu meinem Buch drinstehen würde, ich wünschte sehr, das möge nicht der Fall sein, und zum Glück war es auch so. Ich bin immer froh, wenn ich nicht mit Rezensionen überfallen werde. Am liebsten würde ich keine lesen, einige ganz freundliche gab es schon, aber die von der Meyer-Gosau in »Literaturen« hat Gerd stumm weggelegt: Der Text sei hinterlistig. Gerade sie hatte mich nach der Lesung in der Akademie angesprochen: Nun wolle sie mir doch nach all den Jahren und nach allem, was dazwischenlag (sie hatte meine Bücher immer verrissen), sagen, wie gut sie dieses neue Buch finde …
    Ach, das ist alles unwichtig (sage ich mir selbstbeschwörend). Wichtig ist, daß ich dieses Jahr ganz nach außen gewirbelt wurde und keine Mitte mehr habe, kein Thema, das mich umtreibt und zum Schreiben zwingt. Da hinein, in diese Leere, strömt all das Äußerliche. Neulich kam der Plan auf, über einen Autor zu schreiben, der sich allem entzieht und für die Welt verschwindet – weil ich diese Wunschphantasie Gerd vortrug. Machen kannst du es nicht, sagte er. Aber schreiben kannst du es. Mir kommt es so vor, daß es ein männlicher Autor sein müßte, einer, der ausgebrannt ist, nicht nur nicht lieben, überhaupt nichts mehr fühlen kann, außer Ehrgeiz und Neid.Déformation professionnelle …
    Von den Kindern und Enkeln wird heute nichts zu hören sein. Annette und Honza sind auf Sizilien, Tinka fährt morgen an ihrem Geburtstag nach Barcelona, Helenchen, die hellwache, aktive, macht Praktikum in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Anton bereitet sich auf Vor-Abiturarbeiten vor und will anscheinend nun doch Evolutions-Biologie studieren, Benni erschien neulich auf der Lesung in einem todschicken Outfit, Anzug mit Weste und Krawatte, das Secondhand und auf den zweiten Blick entsprechend verwittert war, aber sonst weiß er wohl noch nicht so richtig,

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