Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
sein konnte. Manchmal scheint seine Eitelkeit beinahe ungebrochen durch. Viele der Anekdoten, die er erzählt, kannten wir schon, aber die Aufzählung der hohen Tiere, die er nicht nur kannte, sondern auch zum Teil beriet, machte mir noch mal seine Bedeutung vor der Wende deutlich. Vielleicht schätzt er sie höher ein, als sie war – aber sei's drum. – In den letzten Kapiteln, die ich dann, nach einem Morgenschlaf, auch noch im Bett las, ist mir zuviel von politischen Machenschaften die Rede – auch von solchen, an denen er nicht beteiligt war: Er ist Chefredakteur des »Spiegel« und schildert für mein Gefühl zu ausführlich die dortigen Verhältnisse und Querelen: Das wird schnell vergessen sein. Und dann der schmerzhafte Abbruch des Kapitels, als er von Willy Brandt ins Kanzleramt berufen wird, um der erste Ständige Vertreter der Bundesrepublik in der DDR zu werden: Diese zwei geplanten Kapitel hätte er zweifellos zu den Höhepunkten des Buches gemacht, und sie hätten ihm im Osten eine beträchtliche Leserschaft gesichert. Ob dies beim jetzigen Zustand des Buches der Fall sein wird, bezweifle ich.
Nun also die Routine nach dem Aufstehen (wobei ich insgeheim prüfe, ob nicht vielleicht mein Vorhofflimmern überNacht vergangen ist; aber ich kann es nicht feststellen, man kann es am Puls nicht tasten). Duschen et cetera. Die Innohep-Spritze, die ich mir geben muß, bis die Falithrom-Tabletten meinen Blutgerinnungswert auf über 2 gebracht haben – was immer das bedeutet. Eine Schnitte mit dem Pflanzenaufstrich aus dem Bioladen, weil ich ja wieder mal abnehmen will. Eine Tasse Tee. Meine diversen Tabletten. Im Radio ein Interview mit dem Generalsekretär der SPD , Benneter, über den Ausgang der gestrigen Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen, bei denen die CDU sieben, die SPD aber immerhin über zwei Prozent Stimmen verloren haben (bei einer Wahlbeteiligung von knapp über fünfzig Prozent!) und dadurch auf das schlechteste Wahlergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik gekommen sind. Der Mann ist trotz redlichen Bemühens des Moderators nicht dazu zu bewegen, dies zu bedauern; im Gegenteil: Er will die von Müntefering ausgerufene Trendwende für die Sozialdemokraten erkennen, wie auch vorher der CDU -Mann Rüttgers trotz der Verluste einen Wahlsieg ausrief. Ich denke: Denen ist nicht zu helfen.
Zettel hinlegen für C., daß wir nicht zur Kur gefahren sind. Im Auto nach Buch. Der Himmel ist trübe, einzelne Schauer, das Thermometer zeigt dreizehn Grad. Gerd hat nichts gegessen, weil er zur Blutabnahme muß. Die Autobahn in Richtung Berlin ist stärker befahren als die unsere. Wir fahren an der Klinik vorbei, die noch gegen Ende der DDR -Zeit für die Großkopfeten erbaut wurde. Gerd erinnert sich, daß er bei einem seiner Schwindelanfälle einmal dort bei einem Ohrenarzt war. (Er weiß übrigens nicht, daß heute »Tag des Jahres« ist, während ich ganz froh darüber bin, weil ich sonst nichts schreiben könnte.) – Wie oft sind wir diesen Weg nach Buch gefahren, wie oft durch das Tor auf das mit den alten Klinikbauten besetzte Gelände gelangt. Der Parkplatz ist vollwie immer, Gerd sucht anderswo einen Platz, während ich uns schon anmelde. Daß er seine Chipkarte vergessen hat, ist nicht schlimm, weil sie ja schon einmal in diesem Quartal eingelesen wurde. Ich muß durch die interne Station – auf der ich auch schon mehrmals gelegen habe – ins Nachbarhaus 134a, in den dritten Stock zum Labor, eine hübsche Assistentin zieht Blut aus meinem linken Ohrläppchen, was zuerst gar nicht gelingt und von ihr humorvoll kommentiert wird. Mein Quick-Wert ist dann nur um ein Zehntel höher als am Freitag – 1,25 –, aber die Wirkung der Tabletten setze ja auch erst frühestens nach drei Tagen ein. Wir würden uns ja nun öfter sehen. Allerdings. Ich merke, daß ich mich an den Gedanken gewöhnt habe.
Gerd sitzt unten im Wartebereich, sein Blut hat er schon abgeliefert, ich setze mich vor die Tür zum EKG , er zieht aus dem Automaten zwei Cappuccino, damit ich meine Falithrom-Tabletten nehmen kann, das verursacht wegen des schäumenden Getränks eine ziemliche Schweinerei. Die EKG -Schwester empfängt mich vertraulich, na klar, sie habe ja neulich gesehen, was mit meinem EKG los gewesen ist, konnte natürlich nichts sagen. Sie kabelt mich an, läßt den Apparat laufen: Es ist noch da. – Geht es manchmal von alleine weg? – Spontanheilungen kommen vor. Aber selten.
Warten vor der Tür von
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