Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Dr. Hohmuth. Es ist fast elf Uhr geworden. Wir sitzen auf Klappstühlen im Flur, so daß die Patienten an uns vorbeiparadieren müssen. Fast alles ältere und alte Leute, wenig ansehnlich. Die Frauen meist kompakt bis dick – wie ich auch. Dazu ungünstig gekleidet. Und die alten Ehepaare – man hat das Gefühl, die langweilen sich miteinander und überhaupt, haben aber eine fast kindliche Abhängigkeit voneinander entwickelt. Wie sehen die anderen uns?
Dr. Hohmuth wirft nur einen Blick auf das EKG , einenzweiten auf meinen Quick-Ausweis. Etwas länger studiert er meinen alten Ausweis von 2002, als ich dieses Vorhofflimmern wochenlang schon mal hatte und es durch einen Elektroschock unterbrochen wurde. Damals sind Sie anscheinend mit einer Falithrom ausgekommen. – Er möchte gern meine Blutgruppe wissen, die ist nicht auffindbar. An einem Modell an einer Schautafel an der Wand erklärt er mir, was da bei mir »flimmert«. Es sei nicht lebensgefährlich, man könne damit existieren. – Existieren, sage ich. Nicht leben. – Er grinst: Doch doch. Auch leben. Kennen Sie Professor Cornu? Ein französischer Kommunist, der in die DDR gekommen sei. Er habe über Marx und den Marxismus gearbeitet. Der sei ein ständiger Gast bei ihnen gewesen, habe die letzten zwanzig Jahre seines Lebens mit diesem Vorhofflimmern zugebracht. Sei sehr aktiv gewesen und dreiundneunzig Jahre alt geworden. Natürlich, die Herzleistung sei eingeschränkt, ich solle sie nicht überstrapazieren, könne mir aber durchaus etwas zumuten. Ich finde das Kurvenbild auf dem EKG ästhetisch eigentlich schön. Ja, sagt er, wenn man von der Unregelmäßigkeit absieht. Er zeigt mir, daß die Herzschläge zwischen den einzelnen Zacken unregelmäßig kommen – mal vier, mal drei, mal zwei. Dies könne man am Puls tasten, das eigentliche Flimmern nicht. Medikamente werden verschrieben. Der nächste Termin ist am Donnerstag.
Draußen ist eine herrliche feuchte Luft, ich atme sie in vollen Zügen, während Gerd das Auto holt. Ich erzähle ihm von Professor Cornu. Gerd fragt, was ich essen will. Gemüse. Wir beschließen, bei Kaiser's ranzufahren. Kaufen Gemüse, Brot, ich wünsche mir zwei magere Steaks, Quark, Halbfettbutter und so weiter. Alles für nur 57 Euro – im Bioladen, sagt Gerd, wäre es viel teurer gewesen. Zu Hause komme ich nur langsam die Treppe hoch: Ja, die Herzleistung ist eingeschränkt!
Es geht inzwischen auf zwölf zu. In der Post ist das übliche halbe oder ganze Dutzend Einladungen zu Ausstellungen und anderen Events, die große Mehrheit des Papiers landet sofort in der Papierkiste unter dem Schrank im Flur. Eine Einladung von der Leipziger Buchmesse: Ich soll zur Messe 2005 einen Erinnerungsband von Pierre Radvanyi über seine Mutter Anna Seghers vorstellen – da ich mich doch so für die Messe eingesetzt habe: Ich habe vorige Woche ein harsch-trauriges Statement für die »Leipziger Volkszeitung« geschrieben, als der Börsenverein der Leipziger Messe nach drei Jahren den nationalen Bücherpreis wieder wegnahm und ihn in anderer Form nach Frankfurt verlagerte. Ich greife vor (ich schreibe dies schon am 28. September): Am Abend las ich zufällig im neuesten Buchhändler-»Börsenblatt«: »Daß der Börsenverein den in den vergangenen drei Jahren vergebenen Deutschen Bücherpreis gemeinsam mit den Partnern aus Leipzig nicht fortgeführt hat, wurde auch politisch interpretiert. Christa Wolf sprach von einer Vertiefung des Ost-West-Konflikts.« Nein. Ich sprach von einer politischen Instinktlosigkeit angesichts der gegenwärtigen Lage in Deutschland (die allerdings durch ein ökonomisches und besonders mentales Auseinanderdriften der beiden Deutschland gekennzeichnet ist). Weiter Post: Ich werde gebeten, an einer Feier zum fünfundsiebzigsten Geburtstag von Imre Kertész im November im Berliner Ensemble teilzunehmen. Eine Frau schickt mir ein Buch, das ich nicht nur signieren, auch noch mit einem von ihr ausgewählten Spruch versehen soll: Dies sind die Sendungen, die mich wegen ihrer Rücksichtslosigkeit immer aufs neue empören. Die Akademie der Künste kündigt ihre Jahressitzung im Oktober an: Diesmal werde ich nicht hingehen, einmal im Jahr muß genügen.
Ich rufe Annette an, mit einem gewissen Bangen, frage, wiees Benni am Wochenende ging, als er bei ihnen war. Nicht so schlimm wie am Wochenende davor, sagt sie.
Als nächstes rufe ich die »Heilerin« an. Sie hat mich das letzte Mal behandelt, als mein
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