Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Leichensäcken von zwei Reinemachfrauen, die auch keine Funktion hatten, über die Bühne geschleift. Bettine die meiste Zeit in einem superkurzen Dirndl. – Später schnappte ich Bemerkungen auf, aus denen ich mir zusammenreimte, was gemeint war: Die Bühnengesellschaft sollte die drei Zeitphasen durchlaufen: 1804, wenn das Stück spielt, 1977, als es geschrieben wurde, und 2006, Gegenwart. Was herauskam, war gequirlte Kacke. – Die Musik allerdings schien mir intelligent zu sein, der sehr junge Musiker, der Kleist ähnlich sah und auch einen Sprachhemmer hatte wie der, schien nicht nur begabt, sondern auch zu wissen, was er will. (Inzwischen sind einige Rezensionen eingetroffen, die alle wesentlich milder und verständnisvoller mit der Inszenierung umgehen – vielleicht haben wir, des Buches wegen, falsche Erwartungen?)
Ich erwache zum ersten Mal um fünf Uhr, erinnere eine kleine Sequenz aus einem längeren Traum: Mir gegenüber steht eine jüngere sympathische Frau, unter dem Arm hat sie einen von diesen metallenen Brätern, in denen man zum Beispiel Fisch oder Fleisch im Ofen braten kann, sie sagt, anscheinend als ihren Namen: Majewski. Ich sage, ich habe ja auch einen polnischen Namen, der auf -ski endet. Ich schlafe nach einiger Zeit wieder ein. Als ich um sieben erwache, habe ich leider den langen Traum, den ich hatte, vergessen, ich sehenur das Gesicht eines jüngeren Mannes, von dem ich weiß, daß er bei uns gut beköstigt werden soll. (Beide, die Traum-Frau und den Traum-Mann, sehe ich jetzt noch vor mir, am Nachmittag des nächsten Tages, an dem ich diese Aufzeichnungen mache.)
Um 7 Uhr 30, früher als sonst, stehe ich auf. Prüfe meine Haare, schiebe die Haarwäsche bis zum nächsten Morgen auf. Dusche und so weiter, die üblichen Morgenverrichtungen. Sehe im Kalender nach, ob heute das Schmerzpflaster schon fällig ist: Nein. Erst am Donnerstag. – Mir fällt ein, was ich mir für den Beginn eines jeden Tages vorgenommen habe, seit ich in Woserin öfter mit depressiven oder ängstlichen Stimmungen aufgewacht bin: Ich sage mir mehrmals inständig: Mir geht es gut. Ich bin froh, daß es diesen neuen Tag gibt. – Übrigens scheint es nach einer Phase sehr warmen Nachsommers ein etwas kühlerer, jedenfalls bedeckter Tag zu werden, nicht unwillkommen.
Frühstück. Am Anfang wie immer die sieben Tabletten, dazu eine Magnesium, eine Vitamin, eine Grünlippmuschel (Wahnsinn!). Haferflockensuppe. Frau Bieber kommt, heute ist keine Zeit, über ihr Ergehen seit der letzten Woche, über ihre operierte Tochter und deren Freundin, über das Bauernhaus, das sie sich gekauft haben, zu sprechen.
Nachrichten: Große Aufregung um die Absetzung der Mozart-Oper »Idomeneo« durch die Intendantin der Deutschen Oper, Kirsten Harms, die vom Kriminalamt eine Warnung bekommen hat: Am Ende der Neuenfels-Inszenierung dieser Oper werden die abgeschlagenen Köpfe von Prometheus, Jesus, Buddha und Mohammed auf die Bühne gebracht. Nach den bösen Erfahrungen mit den ausufernden Protesten der Islamisten nach den Karikaturen in einer dänischen Zeitung und dem (unglücklichen) Zitat des Papstes fürchtete man –und nicht nur und nicht zuerst Frau Harms – Anfeindungen von Islamisten. Nun will es natürlich keiner gewesen sein. Innensenator Körting, der die Intendantin über eine »anonyme Warnung« informiert hatte, hat natürlich mit der Absetzung der Oper nichts zu tun, OB Wowereit, der Bescheid wußte, findet sie falsch, alle Künstler schreien nach der Freiheit für die Kunst, aber niemand hätte Frau Harms die Garantie geben können, daß nichts passieren würde, wenn die Oper gespielt worden wäre. Man wirft ihr Feigheit vor. Ich bin eher entsetzt darüber, daß wir in einem Land leben, in dem ihre Angst berechtigt ist, daß die Islamisten tatsächlich schon eine solche Macht ausüben. – Zufällig heute beginnt eine von Innenminister Schäuble einberufene Islamkonferenz, auf der dieser Vorgang auch zur Sprache kommen soll.
Gerd holt die Post: Eine Einladung zu einer Lesung, die ich wie fast alle derartigen Einladungen nicht annehmen werde. Ein Katalog von Lands' End. Die Zeitung von Longo Maï. Werbung für ein Arthrose-Mittel, die geradezu Wunderdinge verspricht und mich vielleicht sogar verführen würde, weil ich immer noch hoffe, ein Mittel zu finden, das es mir ermöglicht, wieder schmerzfrei zu laufen, dann lese ich aber, daß, wer Probleme mit der Schilddrüse hat, das Mittel nicht nehmen soll. –
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