Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
getrieben wurde, wurde auch erwähnt, Katrin Saß sagte, sie wollte die sofort sehen, sei am meisten von ihrer engsten Freundin bespitzelt worden, das werde sie nie vergessen und der nie verzeihen, de Maizière meinte, irgendwann wolle er einem aus dem Osten einfach so gegenübertreten, wie der sich heute verhalte. Der Haupttenor war, daß die Ostdeutschen allmählich wieder zu einem Selbstbewußtsein fänden, das ihnen durch die Dominanz der Westdeutschen im Vereinigungsprozeß ausgetrieben worden war. Ich frage mich, ob man vor fünfzehn Jahren jemandem geglaubt hätte, der uns prophezeit hätte, daß fünfzehn Jahre später immer noch solche Diskussionen stattfinden würden? Man hätte sich an den Kopf gefaßt.
Im Bett lese ich noch ein Stück in McEwan: »Saturday«, ein gerade hochgelobtes Buch, es wird, da es einen Tag schildert, mit James Joyce und Virginia Woolf verglichen. Nun ja – es ist der Tag im Leben eines Engländers der oberen Mittelklasse, eines Neurochirurgen. Anscheinend hat McEwan sich vorgenommen, nicht nur dessen ganzes Leben (in Rückerinnerungen), sondern auch das gegenwärtige politische Bewußtsein und Weltbild eines gebildeten Mitteleuropäers nach dem 11. September 2001 zu porträtieren. Das führt dazu, daß manches erzwungen und kalkuliert wirkt, und nichts spontan. Ich lese also die ausführliche Erinnerung dieses Henry an eine Operation, die er am Tag zuvor gemacht hat und über dieder Autor sich bis in alle medizinischen Einzelheiten, in alle Fachausdrücke informiert hat. Das ist natürlich glänzend, sogar bewundernswert – aber ist es auch nötig? Übrigens ist es der Tag der größten Massendemonstration in London gegen den bevorstehenden Irak-Krieg, zu dem der Protagonist ein gespaltenes Verhältnis hat, weil er den Mörder und Folterer Saddam weghaben will. Ich denke an mein eindeutiges Verhältnis gegen diesen Krieg damals, als er bevorstand, und an meine Aktivitäten dagegen. Haben wir angesichts der katastrophalen Lage im Irak recht behalten? Oder ist die Lage auch damals so katastrophal gewesen, daß weder Recht noch Unrecht Begriffe waren, auf die man sich noch beziehen konnte? Ist unsere Welt heute in dieser Lage? Wäre das die Antwort auf die Frage, was in meinen Augen das wichtigste Ereignis in den nächsten fünfzehn Jahren sein wird? Wie so oft bei Zukunftsvisionen denke ich: Da werde ich nicht mehr dabeisein.
Ich schlafe schnell ein.
Mittwoch, 27. September 2006
Berlin
Es ist zwei Minuten nach Mitternacht, ich liege im Bett, lese die letzten Sätze eines Aufsatzes von Dietmar Dath in der FAZ : »Science-fiction in nüchternen Versen« über den Literaturwissenschaftler und Dichter William Empson, ein Mann, von dem ich nie gehört hatte, der 1906 geboren wurde und wohl in den Achtzigern starb und über den Dath natürlich kenntnisreich und klug schreibt (was ich seit der zwiefachen Lektüre seines letzten Buches »Dirac« in diesem Sommer auch von ihm erwartete). Die letzten Sätze, mit denen mein Tag also begann, lauten: »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen« – über den vielzitierten Schlußsatz von Wittgensteins »Tractatus« schrieb Empson: »Die Einsamkeit dieses Satzes in seinem Kontext ist der Inbegriff der Schwäche unserer Generation. Konnte Romeo denn nicht geschrieben werden? Sind die Lieder und Sonette etwas, wovon man nicht sprechen kann? Was die Philosophie nicht zu bestimmen weiß, legt die Kunst offen.«
Ich übe mich darin, schnell einzuschlafen, obwohl ich sehr müde bin, gelingt es nicht gleich. Bilder von den Tagen im Rheingau treiben vor meinem inneren Auge vorbei, besonders drängen sich Szenen von der Aufführung der Oper »Kein Ort. Nirgends« vor, welche die Hochschule für Musik in Mainz besorgt hatte, eine ganz junge Regisseurin, die die beiden Paare Gunda-Bettine, Savigny-Wedekind in wechselnden Kostümen über die Bühne – in dem Fall, in der Brentano-Scheune,durchs Publikum – trieb, teils albernd, teils unmotiviert erotisiert, während Kleist ein bißchen schwachsinnig schien und die Günderrode in Liebeshändel verstrickt war. Über der ganzen Aufführung hing ein Honecker-Bild, und einmal mußte der arme Kleist sich plötzlich eine DDR -Fahne um den Kopf binden. Am Ende trieben die beiden, Kleist und Günderrode, die sonst nicht viel miteinander zu tun hatten, in einem kahnartigen Sarg davon, wobei Günderrode einen Bikini mit Bommelbesatz trug. Schließlich wurden sie in
Weitere Kostenlose Bücher