Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
»Gesicht Zeigen!« erinnert mich an noch ausstehende Beitragszahlungen.
Dr. Bernd Hontschik, bei dem und bei dessen Frau Claudia wir am Sonnabend in Frankfurt/Main gefrühstückt haben, erinnert sich – und mich – daran, daß ich, als seine Frau von ihrer Arbeit in der Systemischen Psychologie erzählte, bei der es hauptsächlich um positives Denken geht, danach fragte, ob es also keine Tragik gebe, nach Meinung dieser Therapie. Darüber würden sie immer noch weiter reden, schreibt H. (Irgendwann an diesem Vormittag waren wir auf Todeserwartungen zu sprechen gekommen, und Claudia Hontschik sagte: Eigentlich muß man sich wundern, daß die älteren Leute nicht auf die Straße laufen und schreien, angesichts des nahen Todes, der ihnen bevorsteht. Ich konnte ihr nur zustimmen: So empfinde ich das auch: »Im Warteraum des Gevatters.«) Er schreibt ausführlich über die Reihe »medizinHuman«, die er bei Suhrkamp herausgibt und in die er gerne mein Buch »Leibhaftig« aufnehmen würde. (Ich weiß nicht, ob das günstig wäre.) Wir, Gerd und ich, verständigen uns, daß eigentlich Honzas »Schornstein« gut in diese Reihe passen würde und daß wir es Hontschik schicken wollen, ebenso wie »Älter werden« von der Bovenschen – womit ich gezögert hatte, weil Claudia Hontschik auch Multiple Sklerose hat. (Hontschik: Wenn ich ihr zusehe, wie sie früh aufsteht, zerreißt es mir jedes Mal das Herz.)
Ein Brief von einem Professor, der mich daran erinnert, daß er mich, als wir in Greifswald im Hotel »Kronprinz« beim Frühstück saßen – nach der Abendveranstaltung für Wolfgang Koeppen –, um eine Signatur in »Ein Tag im Jahr« gebeten habe, nun bedankt er sich dafür, daß ich nicht unwirsch reagiert habe, und will sich mir vorstellen. Er war Mediziner, zog nach der Emeritierung in seine Heimatstadt zurück. Er schreibe mir so familiär, weil die Lektüre von »Ein Tag im Jahr« den Leser zum Familienmitglied mache. Er sei am meisten beeindruckt davon, wie ich »seit Jahrzehnten« versucht hätte, »auf dem schmalen Grat zu balancieren, den ein autokratisches Regime zwischen Freiheit und Tyrannis ließ«. Die Utopie könne »nirgends funktionieren, weil sie die banale Natur des Menschen« verkenne. »Alles, was sozial, sittlich und edel an uns ist, müssen wir uns gegen unsere triebgesteuerte Natur sehr mühselig erarbeiten.« Da habe Freud wohl recht gehabt. Er habe mir im Hotel »Kronprinz« spontan gesagt,daß ich für ihn über Jahrzehnte die Hoffnung auf eine andere DDR verkörpert habe – daran erinnere ich mich natürlich nicht, und wenn es so war, so weiß ich gar nicht, ob mich das freuen soll … Meine Auseinandersetzung mit Alter, Tod und Sterben rühre in ihm eine vertraute Saite an. »Die Vertrautheit mit der Unausweichlichkeit, die einem zu keiner Zeit die Freude am Leben nehmen muß, ist es für mich, die mir wirkliche Freiheit auch vor der letzten Angst gibt.« Etwas Vergleichbares glaubte er in meinen Tagebuchaufzeichnungen wiederzuerkennen. – Ich weiß doch nicht. Jedenfalls hat mich gerade der letzte Sommer gelehrt, daß ich keineswegs angstfrei bin und daß der Tod durchaus seinen Schrecken für mich hat … Er schreibt noch ausführlich über Patienten, wie verschieden die eine Diagnose »Krebs« aufnehmen, und er glaubt, ich hätte in bezug auf den Umgang mit »den letzten Dingen« »viel gelernt« … Ich weiß doch nicht. – Ein langer, schöner Brief.
Mittagsschlaf, wie immer dringend herbeigesehnt, beide sind wir immer mittags sehr müde. Ich habe den Eindruck, daß es sich beim Niederlegen in meinem Kopf etwas weniger dreht als in den letzten Tagen. Gerd schläft wie immer schnell ein, ich lese noch die »Berliner Zeitung«. Schlagzeilen: Opern-Absetzung empört bundesweit – man läßt die Intendantin allein im Regen stehen. – Franzosen wünschen sich viele Kinder. – Mohammed und die Freiheit der Kunst. – Der Tip (über angebliche Gefährdung) kam anonym von einer Besucherin. – Franziska Eichstädt-Bohlig ist die derzeit prominenteste Grüne. – Terroristen in ihrem Machtgefühl bestärkt zu haben ist der schlimmste Vorwurf, den man der Intendantin machen muß. – Tony Blairs Abgang rückt näher. – Der Gesundheitsfonds wird gestutzt. – Union im Umfragetief. – Schlecht ausgebildete Teenager häufiger schwanger. – Bundder Steuerzahler wirft Behörden Verschwendung von dreißig Milliarden Euro Steuergeldern vor. – Verbände kritisieren
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