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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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und auch so fällt es mir schwer, sogar das kleine Stück bis zur Kavalierstraße. Ich hadere mit dieser Behinderung, mit diesen Schmerzen, aber dann erinnere ich mich selbst immer wieder daran, daß von all meinen Beschwerden in diesem Jahr nur diese übriggeblieben ist. Honza kommt mir entgegen, dann auch Annette, sie wirkt locker und unangestrengt, sie wollen zum italienischen Lokal essen gehen, wo sie draußen in der Sonne sitzen können. Honza hat den Umschlagentwurf für sein Buch mit, eine Figur, er, steht auf einem Schornstein – mir gefällt dieser Umschlag. Die Frage über die Zeitfolge in einem Satz, die er mir noch stellen wollte, müssen wir verschieben – ich muß den Satz vor mir sehen. Honza sagt, bestimmte Zeiten gebe es in der tschechischen Grammatik nicht, darum sei er im Deutschen dabei unsicher.
    Meine Kosmetikerin hat mir zwei Zeitschriften hingelegt, Exemplare der »Freundin«, die ich durchblättere, während sie meine Füße behandelt. Sie erzählt von ihrem Urlaub im Schlaubetal, sie hatten einen Bungalow am Wasser – bestimmt aufgemöbelter DDR -Bungalow, sagt sie, es roch wieim Ferienlager, da gehen sie wieder hin. Diesmal hatten sie nur ein verlängertes Wochenende, auch, weil ihr Sohn dabei sein sollte, und der mußte dann zur Schule. Sie hatten ihn aber wenigstens ein paar Tage in eine andere Umgebung bringen wollen, weil er in der Woche davor mit seiner Gruppe von Rechten überfallen worden war, nachts in Pankow, er gehört zu den »Metals«, die sich schwarz anziehen, aber keine Gewalt ausüben. Die anderen waren auf Gewalt aus, fingen auch an, ihre Mädchen zu treten, da hat ihr Sohn die Polizei angerufen, die war auch schnell da und hat ein paar von den Rechten festgenommen. Nun suchen die überall nach dem, der die Polizei angerufen hat. Er soll im Oktober vor Gericht aussagen, und Frau G. hat Angst, daß er dann bei den Faschos auf der schwarzen Liste ist und die sich an ihm rächen werden. Ich bin sehr beunruhigt, daß dies alles in unserem ruhigen Pankow passierte.
    Ich finde in meiner Nummer der »Freundin« einen Artikel, der die jeweiligen Hormone und anderen Wirkstoffe auflistet, die für bestimmte Gefühlszustände und Handlungsweisen des Menschen verantwortlich sind. Zum »Fremdgehen«: Unser Körper vermißt da nicht den anderen, sondern den Wirkstoff PA , der bei einer dauerhaften Beziehung ausgestreut wird. Wir sind in einer Phase, in der die Neurowissenschaften in der Euphorie über ihre Entdeckungen von Gehirnaktivitäten und Wirkstoffen die Verantwortung von Menschen für ihre Handlungen immer mehr zurückdrängen. Wenn eben dieser Botenstoff fehlt, muß man halt fremdgehen. Der andere Mensch fehlt einem ja nicht. (Während ich dies schreibe, komme ich mir selbst anachronistisch moralinsauer vor.)
    Das Gespräch geht über zu den Wahlen. Wie öfter in den letzten Tagen höre ich auch von meiner Kosmetikerin, daß sie froh war, daß Schwarz / Gelb keine Mehrheit bekommenhatte. Sie deutet an, sie habe Grün gewählt, die hätten doch in den letzten Jahren einiges Gutes gemacht und die Umweltproblematik brenne uns doch auf den Nägeln. Zu dem Kanzler-Auftritt in der Elefantenrunde, als man ihn ganz enthemmt erlebte, sagt sie, der habe doch bestimmt »was genommen«. Aber da sehe man, daß es denen allen nur um ihre eigene Macht gehe. Ich weiß nicht mehr, wie wir dann aufs Sporttreiben kommen, auf die Schwierigkeit, den »inneren Schweinehund« zu überwinden. Frau G. wird demnächst von einer Physiotherapeutin zu Hause besucht, die ihr Pilates beibringen will, sie will sie fragen, ob sie vielleicht auch zu mir kommen würde, um Übungen mit mir zu machen, zu denen ich mich sonst kaum aufraffe.
    Wie immer genieße ich die Fußmassage, gehe dann rüber in die Kosmetikkabine, werde bequem gebettet (mit einem kurzen Erfahrungsaustausch über das beste Kopfkissen, die bevorzugte Lage beim Schlafen), werde vorbehandelt, bis der wichtigste Teil beginnen kann: Die ausführliche und gründliche Gesichts- und Nackenmassage. Während ich danach entspannt liege, treiben Bilder und Gedanken vorbei, wieder mache ich mir klar, daß ich in diesem Jahr einige nicht ganz leichte Eingriffe gut überstanden habe – die Cardioversion gegen das Vorhofflimmern, die Einpflanzung des Herzschrittmachers, den Anfall von Bluthochdruck danach, daß ich froh und dankbar sein kann, nun ist nur noch dieser allerdings sehr lästige Knieschmerz übriggeblieben. Ich döse ein, werde geweckt,

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