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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ziehe mich an, zahle, gehe, wieder unter Schmerzen, nach Hause. Länger als diese zehn Minuten möchte ich gar nicht gehen.
    Ein Fax von der » ZEIT « erwartet mich, sie haben den Beitrag über Konrad Wolf so gekürzt, daß wichtige Teile weggefallen sind. Ich telefoniere lange mit Bruno Kammertöns, mache selbst einen Kürzungsvorschlag, faxe den nach Hamburg, er wird akzeptiert, das Ganze dauert mehr als eine Stunde.
    Ein Fax von Honza ist da, der Satz aus seinem Buch, an dessen Zeitform er Zweifel hat. Ich spreche auf seinen Anrufbeantworter, daß der Satz richtig ist.
    Die Post liegt auf dem Küchentisch: Aus Chemnitz der dicke wunderbare Katalog von der Carlfriedrich-Claus-Ausstellung, in dem ich einen sehr kurzen Beitrag habe, den die Museumsleiterin in einem Begleitbrief über Gebühr lobt. – Ein Brief von Sonja Hilzinger, die auf unseren Vorschlag in Jena den Caroline-Preis bekommen hat, sich noch einmal dafür bedankt und ihre Dankrede mitschickt, die mir gefällt. – Eine Karte von der Côte d'Azur, von Sue Stern, die ihre Schwester in einem deutschen KZ verloren hat und mich gefragt hatte, ob vielleicht Jeanne Stern diese Schwester gewesen sein könnte. Leider mußte ich das verneinen. Ich hatte ihr mein Buch geschickt, sie bedankt sich dafür. – Einladungen: Zu Veranstaltungen der Akademie der Künste – teilweise in das neue Haus am Pariser Platz, das sich leider als wenig funktionstüchtig erweist. Eine Einladung der Senatskanzlei zu einem Fest, eine Einladung der Staatsoper zu einer Aufführung der Oper »Salome«. Dies alles werde ich nicht besuchen, wegen der Schmerzen im Knie muß ich auch solche Veranstaltungen meiden, zu denen ich ganz gerne gehen würde. Zum Beispiel halte ich mich von Ausstellungen fern, weil ich vor Bildern nicht stehenbleiben kann. Zwar will ich noch durch einen Schmerztherapeuten versuchen, eine Besserung zu erzielen – um nur nicht noch einmal eine Operation auf mich nehmen zu müssen –, aber manchmal denke ich, ich muß mich mit diesem Zustand abfinden. Müßte dann einen Treppenlift einbauen lassen, weil das Treppensteigen jedesmal eine Herausforderung ist, vor der ich mich fürchte. Die Kinder, die alleim dritten oder vierten Stock wohnen, kann ich nicht mehr besuchen.
    Ein knappes Stündchen, zwischen sechs und sieben, kann ich mich noch mal an diesen Text setzen, dann ruft Gerd zum Abendbrot. Es gibt einen sehr wohlschmeckenden Cocktail aus frischer Minze und Rum, einen von Gerds berühmten Vorspeisentellern, die ihm selber immer wieder Spaß machen, und geräucherte Makrele. Das und die Stunden danach sind die Tageszeit, auf die ich mich schon immer freue – eine Zeit des reinen Konsums. – Die Fernsehnachrichten können keinen Fortschritt der Verhandlungspartner in Richtung auf eine Große Koalition vermelden, aber daß es auf die hinausläuft, wird allgemein anerkannt, die Kommentatoren sagen voraus, daß Schröder sich werde zurückziehen müssen, eventuell auch Angela Merkel. Bis jetzt bestehen beide Parteien auf der Kanzlerschaft. Im Nahen Osten wird der gerade geräumte Gaza-Streifen von den Israelis wieder bombardiert, weil sie von dort aus mit Raketen beschossen worden waren. Übermorgen werden Tinka und Martin mit einer Gruppe nach Israel fliegen …
    Es gibt einen Krimi, bei dem wir bleiben, obwohl wir ihn eigentlich scheußlich finden, mit viel Gewalt usw. (habe ihn, da ich dies zwei Tage später schreibe, schon vergessen und schlafe zwischendurch mal ein, was mir jetzt, nach der Manier alter Leute, öfter passiert). Spät dann noch eine der in hoher Blüte stehenden Talkshows: Staatsangehörigkeit: deutsch. Lebensgefühl: Ost. Unter Herrn Stölzls Regie unterhielten sich vier Leute: Jens Bisky, der gerade ein sehr skeptisches Buch zur deutschen Einheit geschrieben hat, Katrin Saß, die seit ihrer Rolle in »Good bye, Lenin!« etwas wie eine Fachfrau für DDR -Fragen geworden ist, eine Frau Rellin, die aus dem Westen kam, aber als Journalistin über den Osten berichtet, undLothar de Maizière. Das war ganz interessant, weil es zeigte, wie stark die Fragen nach der »mentalen« Einheit der Deutschen immer noch anstehen und ungelöst sind – wobei ich mich frage, wie sollten die auch »gelöst« werden. Inzwischen ist allgemein anerkannt, daß im Vereinigungsprozeß »Fehler« gemacht wurden, daß die Westdeutschen und die Ostdeutschen einander nicht kannten und auch jetzt noch kaum kennen, der Mißbrauch, der mit den Stasi-Akten

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