Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
›wahr‹« in der Literatur einer der rätselhaftesten Vorgänge, und bei einem Mann, der so skrupulös ist wie Kertész, ist diese Frage sicher immer gegenwärtig. Er geht so weit zu sagen, daß man ja nicht wissen könne, ob es diese Krankenbaracke in Buchenwald, über die er schreibt, wirklich gegeben habe, bis – ich glaube aus Anlaß der Nobelpreisverleihung – ein Mann ihn angesprochen habe, der mit ihm zusammen in dieser Baracke gelegen und ihm also bestätigt hat: Es gab sie. – Und ich muß wieder an mein angstbesetztes Manuskript über die Stadt der Engel denken, das so langsam vorrückt, vielleicht auch, weil sich der Stoff, der doch einfach »da« zu sein scheint, Jahr für Jahr verändert und ich gar nicht sicher bin, ob ich ihn in seiner endgültigen, was hieße: »wahren« Gestalt erwische. Da es das letzte Wichtige ist, was ich schreiben werde, scheine ich mich zu überfordern. Lasse mir übermäßig viel Zeit, ohne zu wissen, ob ich die wirklich noch habe. Und oft, wenn ich sehe, was die Jungen schreiben, frage ich mich, wieso mein Schreiben – der Inhalt und der Gehalt dieses Schreibens – »wichtig« sein soll.
Wir trinken Tee, essen ein halbes Mohnbrötchen, von Gerdselbst hergestellte Marmelade. Er ist sehr beschäftigt mit der Vorbereitung seiner Ausstellung, die im November in der Akademie und in unserer Galerie sein wird. Es ist jetzt gegen siebzehn Uhr. Ich setze mich zum ersten Mal an diesem Tag an meinen Schreibtisch, aber nur, um aus einer Modezeitung diejenigen Modelle herauszuschneiden und auf eine Pappe zu kleben, die ich für Tinka bestellt und noch nicht bekommen habe und die ich ihr anstelle der wirklichen Kleidungsstücke mitbringen will. Dann sind die Kartoffeln gar, die wir aufgesetzt haben (sogenannte »Hörnchen«), und ich beginne, sie zu pellen, für den Thüringer Kartoffelsalat, den wir Tinka zu ihrer Überraschungsparty mitnehmen wollen. (Gerd ist diesen ganzen Tag und auch schon am Tag vorher damit beschäftigt, »seinen« Prenzlauer-Berg-Autoren hinterherzutelefonieren, um sie für die diversen Lesungen, die er am Rande seiner Akademie-Ausstellung machen will, zu verpflichten. Abenteuerliche Erfahrungen mit falschen Telefonnummern usw. Er ist heftig beschäftigt und nervös.) Gerd kommt dazu, er mischt den Salat mit Zwiebeln, Essig, Öl, Pfeffer, Salz, Brühe – es wird eine ganz schöne Schüssel voll.
Was ich seit Tagen aufgeschoben habe: Ich setze mich hin und unterschreibe den Generalvertrag mit Suhrkamp, den außer mir Georg Reuchlein von Luchterhand und Ulla Berkéwicz von Suhrkamp unterschrieben haben. Nun ist also mein Übertritt in den anderen Verlag perfekt – ein Vorgang, mit dem Luchterhand sich so schwer getan hat und der wahrscheinlich keine materiellen, wohl aber ideelle Vorteile für mich bringt: Ich will nicht bei diesem Mammut-Konzern Random House sein; ich kann die Vorteile nutzen, die die einzelnen Sparten von Suhrkamp für die Wiederaufnahme verschiedener Bücher von mir sind. Und ich habe freundschaftliche Beziehungen zu Suhrkamp-Mitarbeitern – allen voran zu Ulla Berkéwicz, zuder wir in kurzer Zeit eine wirkliche Freundschaft entwickelt haben.
Es bleibt mir noch Zeit, auf zwei DIN -A4-Seiten Erinnerungsnotizen zu machen für die Ausarbeitung des »Tages«, an der ich nun schon den dritten Tag sitze. Elke Erb ruft an – deren Nummer auch sehr kompliziert zu ergattern war –, sie ist bereit, an der Lesung mitzuwirken. Sie erzählt mir von ihrer Trigeminus-Neuralgie, die sie mit Akupressur zu bekämpfen sucht, und davon, daß sie über Ilse Aichinger schreiben soll, deren letztes Buch, »Unglaubwürdige Reisen«, sie allerdings nicht kennt. Wir versprechen, es ihr zu schicken.
Wir sehen noch die Neunzehn-Uhr-Nachrichten im Fernsehen, alle sind also der Meinung, man hätte die Mozart-Oper nicht absetzen dürfen, ich bin wütend auf die Heuchler. Dann wird das Ergebnis der neuesten Untersuchung über den Stand der Wiedervereinigung verkündet, durch den Minister Tiefensee, der zugleich Verkehrsminister ist. Also: Die »neuen Länder« haben auf sehr lange Zeit keine Aussicht, die alten Bundesländer einzuholen in bezug auf Wohlstand, Industrialisierung usw. Obwohl seit 1993 mehr als zwanzig Milliarden Euro von den alten Ländern in die neuen reingepumpt wurden. Eine unvorstellbare Zahl, die, so unkommentiert vermeldet, bei den Leuten im Westen natürlich Unverständnis, Hohn, ja Wut auslösen muß: Der Osten kann eben nicht
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