Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
wirtschaften. Wieviel von diesen Milliarden an Westunternehmer ging, in den Westen zurückfloß, wird natürlich nicht untersucht (die Erneuerung der Infrastruktur natürlich zumeist durch West-Unternehmer!). Und: Daß zuerst, im frühen Prozeß der Wiedervereinigung, der Osten deindustrialisiert wurde – nicht zuletzt aus Konkurrenzgründen. Heute hat ein westdeutscher Müllentsorger die ganze Müllentsorgung unserer Region in Mecklenburg-Vorpommern »unter sich«, seinSohn, heißt es, hat die Felder der ehemaligen Genossenschaft, jetzt GmbH, gekauft. Beide wohnen auf einem sanierten Schlößchen in unserer Nähe. Die Landarbeiter arbeiten von März bis Oktober, dann gehen sie in die Arbeitslosigkeit und werden vom Steuerzahler bezahlt. Der Herr hat die Leute aus dem Dorf durch ein Fest mit Freibier bestochen, die finden ihn jetzt einen »feinen Kierl«. –
Meine Fußpflegerin erzählte mir neulich, die Zeit, als sie in der DDR in einer Verpackungsfabrik an der Maschine arbeitete, sei die schönste in ihrem Leben gewesen: Wegen der Solidarität unter den Arbeitern. – Aber die Restriktionen! sagte ein Westmensch, dem ich das erzählte. – Daß die »einfachen« Leute heute mehr Angst vor der Arbeitslosigkeit haben, als sie früher vor der Stasi hatten, geht ihm nicht in den Kopf. Sie haben es geschafft, sich einen lückenlosen Unterdrückungsstaat zurechtzuzimmern. Sie brauchen das dringend, sonst wäre ja die Art und Weise, wie die Einheit »vollzogen« wurde, ein Verbrechen. Und all das, was jetzt über die früheren und über die jetzigen Verbrechen der CIA über den Bildschirm und über die Print-Medien geht, kann diese Überzeugung nicht mehr ins Wanken bringen. Anscheinend will es auch nicht in den Schädel der meisten Menschen in der westlichen Welt, daß Mr. Bush, der den Irak-Krieg im vollen Bewußtsein auf Grund von Lügen lostrat, ein ungleich schlimmerer Verbrecher ist, als die wenig mächtigen Obrigen in der DDR es je hätten sein können. Aber er gilt weiterhin als zu achtender Führer der westlichen Wertegemeinschaft, von »freedom and democracy«. Dabei ist er nichts als eine Puppe in der Hand der Vertreter jener Konzerne, die an der Globalisierung interessiert sind.
Eine alarmierende Meldung: Der Kernkraftbetreiber hat beantragt, das älteste Kernkraftwerk der Bundesrepublik, dasim nächsten oder übernächsten Jahr vom Netz gehen sollte, in Betrieb zu lassen: Dies könnte der Anfang vom Ende des Atomausstiegs der Bundesrepublik sein, der doch eigentlich beschlossen ist. Die Grünen schreien auf. – Ich nehme mir vor, das Formular für einen Stromanbieter, der atomfreien Strom garantiert, auszufüllen, das mir die Leute vom »Ulenkrug« mitgegeben haben. Mir ist unverständlich, wie man für diese – atomare – Stromerzeugung sein kann, wo doch noch gar keine Lösung für die Endlagerung der immer noch strahlenden Abfälle gefunden ist.
Nach halb acht kommt Annette, ohne Honza, der sehr starke Rückenbeschwerden hat, am Vormittag aber doch beim Gericht in Potsdam war, wo zum soundsovielten Mal die Frage behandelt wurde, ob seine Krankenkasse die Kosten für seine nun seit zwölf Jahren andauernde Apharese-Behandlung bezahlen muß. Zum zweiten Mal erläßt der Richter das Gebot, die Kasse habe zu zahlen – allerdings erst vom nächsten Quartal an, nicht rückwirkend. Ob sich die Kasse diesem Urteil nun endlich beugen wird, muß man abwarten, immerhin wäre es eine riesige Erleichterung, wenn Annette und Honza nicht weiterhin jeden Monat viertausend Euro aufbringen müßten. Annette sagt, sie hätten in den sechs Jahren, da die Kasse nicht gezahlt habe, mit Hilfe von Angehörigen und Freunden etwa 100.000,00 Euro für die Behandlung bezahlt – die für Honza lebensnotwendig ist, was die Kasse nicht anerkennt, weil es wegen der geringen Zahl der von dieser Krankheit Betroffenen keine statistischen Erhebungen über die Wirkung der Apharese – Blutwäsche – gibt.
Ich ziehe mir die rote Leinenbluse mit den Pailletten an, die ich noch nie anhatte, es ist warm genug, ohne Jacke zu gehen, nur mit dem dünnen Anorak. Annette hat für Tinka eine schöne große Ledertasche, in der sie Akten, auch eine Wochenendausstattung unterbringen kann. Immerhin ist es ihr fünfzigster Geburtstag, den alle etwas ernster nehmen als einen gewöhnlichen Geburtstag. Wir fahren zusammen zur Brunnenstraße, sehr mühsam klettere ich die drei Treppen hoch, die Überraschung ist geglückt: Tinka hatte
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