Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
in dieser Wohnung in der Brunnenstraße. Ute war von Tinka angesprochen worden, ob sie mit »in die Regierung« – in jenes Frauenministerium bei der Noch- DDR -Regierung – kommen würde, bei dem Marina Staatssekretärin und Tinka ihre Assistentin war. Margits Geschichte habe ich vergessen. Joanna hatte sich bei OWEN beworben und ein Einstellungsgespräch mit Tinka geführt, vor dem sie große Angst gehabt hatte und das dann für sie sehr erfreulich verlief. Andrea war in der Gruppe des »Neuen Forum« in Mitte mit Tinka und Martin zusammengetroffen – wie überhaupt sie alle, soweit sie nicht aus dem Westen kamen, sich in den letzten Monaten und Jahren der DDR in kritischen Zirkeln und Kreisen bis hin zu Untergrundkreisen getroffen hatten.
Ob sie ihrer Jugend nachtrauerten, frage ich sie. Alle sagen:nein. Jutta sagt, sie habe sowieso nicht in die Politik gehen, sondern immer das machen wollen, was sie jetzt mache; auch Andrea sagt das. Ruth war 1981 gerade als Pfarrerin nach Pankow gekommen, da sagten ihr die Leute vom Friedenskreis: So. Das ist jetzt unsere Kirche.
Wie unterschiedlich, um wieviel lebendiger die Zeit, da sie um die dreißig waren, bei ihnen verlaufen ist als bei uns, bei mir!
Um Mitternacht wird noch eine Flasche Sekt geöffnet, wird angestoßen, mir fällt ein, daß zum ersten Mal Tinkas und Martins Kinder nicht dabei sind – Helene seit einigen Tagen auf der »London School of Economics« in London, Anton, nach einem Sommerpraktikum als Umweltschützer auf der Insel Föhr, bei seiner Freundin Jana in einem Dörfchen mit unaussprechbarem Namen bei Hamburg, auf dem Sprung, nach Berlin zurückzukommen und an der FU Japanologie (!) zu studieren. – Wir sitzen noch fast eine Stunde zusammen, dann fahren wir, wieder mit Annette, nach Hause. Bin sehr müde, um halb zwei im Bett. War doch eigentlich ganz schön, sagt Gerd, ehe er sich zur Wand dreht und einschläft. Ich blättere noch in dem Buch von George Steiner: »Warum Denken traurig macht«. Lese das Motto von Schelling (»Über das Wesen der menschlichen Freiheit«, 1809), das ich an den Schluß setzen will:
»Dies ist die allem endlichen Leben anklebende Traurigkeit, die aber nie zur Wirklichkeit kommt, sondern nur zur ewigen Freude der Überwindung dient. Daher der Schleier der Schwermut, der über die ganze Natur ausgebreitet ist, die tiefe unzerstörliche Melancholie alles Lebens.
Nur in der Persönlichkeit ist Leben; und alle Persönlichkeit ruht auf einem dunklen Grund, der allerdings auch Grund der Erkenntnis sein muß.«
Donnerstag, 27. September 2007
Berlin
Es ist achtzehn Uhr, jetzt fange ich an, nach Notizen, diesen Tag zu rekonstruieren. Es läßt sich erkennen, daß er von einem zentralen Thema beherrscht ist, das schon um Mitternacht angeschlagen wurde, als ich im Fernsehen noch ein Stück des Films »Herr Zwilling und Frau Zuckermann« sah, einen Dokumentarfilm, den ich schon einmal gesehen hatte, ohne mich daran zu erinnern: Das geht mir jetzt mit fast jedem Buch, mit fast jedem Film so – warum sieht und liest man eigentlich noch? – Herr Zwilling und Frau Zuckermann leben in Czernowitz – wo ja auch Paul Celan gelebt hat –, sie gehören zu den überlebenden Juden, die aus den Konzentrationslagern in ihre Stadt zurückgekehrt sind. Die Kamera zeigt einmal eine Zusammenkunft dieser Menschen, fast alle älter bis alt, ein Häufchen altmodisch gekleideter Männer, weniger Frauen, mit ernsten, in sich gekehrten Gesichtern, ohne Hoffnung, empfand ich, aber das wage ich ihnen nicht nachzusagen. Menschen aus einer anderen Welt, aus einer anderen Zeit. Einmal, als die ganze Stadt von einer Höhe aus gezeigt wurde, in die östliche Ebene hingebreitet, hatte ich das Gefühl, so würden Nachgeborene eine versunkene Zivilisation vorfinden.
Herr Zwilling ist von beiden der Pessimist, beide haben Schüler, denen sie Unterricht geben (waren sie früher Lehrer? Ich habe das nicht verstanden, weil ich schwerhöriger werde und beim Fernsehen oft etwas nicht verstehe, das nimmt zu).
Der riesengroße jüdische Friedhof der Stadt, dicht bei dicht die aufgerichteten Steine. Gräber werden aufgebrochen, anscheinend versprechen sich die Räuber irgendeine Beute. Auch die Gräber der FamilienZwilling und Zuckermann. Frau Zuckermann erzählt, wie ihre Familie ins Ghetto getrieben wurde, in einen Schweinestall, wie sie in den Schweinekoben hausen mußten und wie in wenigen Wochen ihr Vater, ihre Mutter, ihr Mann und ihr
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