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Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)

Titel: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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keine Ahnung von der heimlich durch Martin einberufenen Party, wir sind die ersten und finden sie in ihrem neu renovierten Zimmer inmitten von Papierstößen auf der Erde sitzen: Sie hatte noch aufräumen wollen, ehe sie am nächsten Tag mit unbekanntem Ziel verreisen würde – niemand hat ihr verraten, daß sie zu einer Pina-Bausch-Aufführung nach Wuppertal fahren werden.
    Mit uns zusammen kommen Margit und Malinka die Treppe hoch, da schwant Tinka, was ihr bevorsteht, hinter ihrem Rücken von Martin organisiert. In Windeseile legt Martin zwei große Platten auf Böcke im Wohnzimmer, ein langer Tisch ist entstanden, auf den stellen die Neuankömmlinge ihre mitgebrachten Eßwaren: Wir also den Thüringer Kartoffelsalat und Kaßler, zwei Flaschen Champagner werden gleich aufgemacht, Annette Schinken, Margit eine Käseplatte, Hannelore, Tinkas »Chefin« bei DARE , eine aus feinstgeschnittenem Rinderfilet und Rucola bestehende Vorspeise, Heike, die Mitbewohnerin bei Tinka und Martin, hat unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eine Soljanka gekocht, später kommen Ruth und Hans Misselwitz noch mit einer Kürbissuppe, Joanna, eine polnische Kollegin von OWEN , bringt eine Nachspeise. Andrea kommt aus Woserin, Jutta Seidel, die Zahnärztin, ist da, Ute Gölitzer, die im letzten Jahr achtundzwanzig Pfund abgenommen hat und mir die Adresse ihrer Ernährungsberaterin gibt. Außer Joanna und Heike kennen wir alle Freunde von Tinka, mir gefällt, daß wir auch zu ihnen eine gute Beziehung haben, eine große Bereicherung. – Zuunserer großen Freude erfahren wir – durch Tinkas Schuld verspätet –, daß Uta und Olaf in Tarnowitz glücklich ihr so heiß ersehntes Baby, Luca, bekommen haben, und lassen sie hochleben.
    Der Vorschlag kommt auf, jede und jeder solle erzählen, wann und auf welche Weise er Tinka zum ersten Mal getroffen habe. Da bin ich denn natürlich die erste, erzähle, daß Gerd selbst in Mahlow im Krankenhaus lag, ich also alleine war, meine Freundin Rachel zu mir gebeten hatte, die aber schlief, als nachts die Wehen begannen, daß ich ein Taxi rief, die Freundin weckte, losfuhr – zu gleicher Zeit war ja der Aufstand in Ungarn –, nach Kaulsdorf, in die Klinik, wo die Liege, auf die man verbracht wurde und auf der man stundenlang ausharren mußte, elend hart war; erzähle, daß Tinka sich natürlich (!) die Nabelschnur um den Hals gewickelt hatte, daß sie gegen zehn (oder war es nicht eher elf?) am Vormittag geboren wurde, leider weiß ich weder bei ihr noch bei Annette die genaue Uhrzeit, daß der Gynäkologe – eben jener Dr. Waldeyer – sagte: Ach, sie hat ja schon ein Mädchen!, und dann ganz erleichtert war, daß ich sie, als man sie mir auf die Brust gelegt hatte, begrüßte: Na, Katrinchen! – Wir reden darüber, daß damals manche Väter nicht in die Klinik kamen, wenn sie erfuhren, daß ihnen kein Sohn geboren war, und daß deshalb die Schwestern am Telefon das Geschlecht des Neugeborenen nicht nennen durften. Wir müssen uns erst erinnern, daß Gerd Tinka ein paar Tage später sah und sie mit »Nasenkönig« begrüßte, während er zu Annette gesagt hatte: Sieht aber ulkig aus. Und Annette erinnert sich daran, daß ihr Trauma gegenüber der Schwester ausgelöst wurde, dadurch, daß sie wegen Keuchhusten und der Ansteckungsgefahr lange bei der Oma bleiben mußte und, als sie dann endlich zu uns kommen durfte, die kleine Schwester mit Mundschutz im Kinderwagen im Garten ansehen durfte, worauf die anfing zu brüllen. – Und ich muß wieder daran denken, wieviel ich damals, einfach aus Unkenntnis, falsch gemacht habe, besonders bei Annette.
    Martin. Er hat Tinka zum ersten Mal bei einem Geburtstag von Helga Paris, der Fotografin, gesehen. Sie fiel ihm auf, aber da war sie mit Ralli da. Sie verloren sich wieder aus den Augen, bis sie sich ein Jahr später bei dem gleichen Anlaß wieder trafen. Tinka saß auf dem Bettrand und klopfte auf den Platz neben sich: Er solle sich zu ihr setzen. Daß er zögerte, und was er dabei für ein Gesicht machte, gab ihr den Gedanken ein: Mit dem könnte es etwas werden. Aber er war ja noch anderweitig gebunden, und einmal, erzählt sie, saßen sie dann ja auch zu dritt zusammen.
    Manche haben Tinka über Martin und durch den Friedenskreis kennengelernt, Ruth und Hans waren gekommen, nachdem sie im Wahllokal erklärt hatten, warum sie nicht zur Wahl gingen, und hatten sich mit Martin beraten wollen, was nun zu tun sei, da war Tinka bei ihm – schon

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