Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert (German Edition)
Sohn starben. Sie hatte Flecktyphus, war bewußtlos, anscheinend haben Menschen sie gefüttert, so daß sie überlebte. Wenn mir vor fünfzig Jahren jemand erzählt hätte, daß einmal Deutsche zu mir kommen würden und ich mit ihnen darüber reden würde …, sagt sie. In einer Veranstaltung singt sie mit einem schönen Sopran ein jiddisches Lied.
Eine Schulklasse. Kinder aus jüdischen Familien, in denen es keine Ahnung von der Religion mehr gibt. Die Feiertage werden nicht begangen, Kerzen zum Schabbath nicht angezündet. Viele wollen anscheinend weg, die junge Lehrerin bedauert das sehr. Auch hier wieder: Ein Schulunterricht, der an die Schule bei uns in den fünfziger Jahren erinnert.
Es war halb eins, ich hätte den Film gerne weiter gesehen, aber er war noch lang, und mir fielen die Augen zu. Ins Bett. Der neue Schlafanzug gefällt mir. Ich lese noch – das Thema setzt sich fort – in dem ersten Buch von der israelischen Autorin Lizzie Doron: »Warum bist du nicht vor dem Krieg gekommen?«, auch das habe ich schon mal gelesen und vergessen. In den Tagen davor las ich das nächste von ihr: »Der Anfang von etwas Schönem«. Das erste ist offenbar autobiographisch: Über ihre Mutter Helena, Geschichten über sie in einem südlichen Viertel von Tel Aviv, in dem nur polnische Auswanderer-Familien leben, in denen mindestens ein Mitglied im Lager war, wie auch Helena. Wie diese Erfahrungin ihr jetziges Leben hineinwirkt; wie sie die Menschen verändert hat. Wie sie von Sehnsucht nach ihrem polnischen Heimatort beinahe aufgezehrt werden. Wie sie die Zerstörung, die das Lagererlebnis in ihnen angerichtet hat, an ihre Kinder weitergeben müssen. Und wie dies das Verhältnis zwischen den Generationen stört – dies besonders in ihrem zweiten Buch beschrieben, das weniger autobiographisch ist. Bei mir wieder dieses Gefühl von Hoffnungslosigkeit – wie soll das je, auch nur ansatzweise, geheilt werden? Ich habe das Gefühl, daß es immer schlimmer wird. Aber vielleicht ist gerade das, muß ich eben denken, die Voraussetzung dafür, daß es – ja was denn: »besser« werden kann? Ich weiß es nicht.
Nachts, wenn ich aufstehen muß, lese ich immer mal ein Kapitel aus dem Buch von Lizzie Doron, schlafe dann weiter. Gerd liest gerade das Büchlein von Gumprecht: »›New Weimar‹ unter Palmen«, über die Schicksale der deutschen Emigranten in Los Angeles – ich brauche diese Lektüre für den Abschnitt, an dem ich mit meinem Manuskript gerade angelangt bin.
Um acht Uhr stehe ich auf, gehe vor Gerd ins Bad, meistens ist die Reihenfolge umgekehrt. Morgenritual, da stellt sich zwanghaft die Frage ein: Wie lange noch? Wie oft noch? Aus dem Radio die ersten Nachrichten des Tages: In Burma hat nun also die Junta angefangen, die Demonstrationen der Mönche und von Teilen der Bevölkerung gewaltsam aufzulösen. Neun Tote. Und das wissen wir schon: Von außen kann man nicht eingreifen, die Oppositionellen sind ihrem Schicksal überlassen. Eine UN -Resolution ist am Veto Chinas gescheitert. Sanktionen, nun ja, aber der Machterhalt ist den Machthabern wichtiger. Nur China könnte Einfluß nehmen. – Reaktionen auf die Rede der Kanzlerin Merkel vor der UNO , die auf Maßnahmen gegen den Klimawandel besteht. Zumeistachtungsvolle Äußerungen: Sie ist wohl begabter als Außenpolitikerin denn als Innenpolitikerin.
Ich übergehe die eigentlich fällige Haarwäsche, ziehe die Kleidung an, die ich schon seit Tagen trage, alles aus Bequemlichkeit. Mache das Fenster auf. Frische, kühle Luft, bedeckter Himmel, regnerisch. Der Herbst. Einzelne Abschnitte an den sonst noch grünen Bäumen beginnen zu vergilben. Unten liegt schon eine ganze Menge trockener Blätter. Noch ist die gegenüberliegende Seite vom Amalienpark durch das Laubwerk der Bäume verdeckt, das ist immer mein Test.
Zum Frühstück. Gerd hat Eier im Glas gemacht, was ich liebe. Er sitzt schon über der Zeitung. Ich muß meine ganzen Pillen aus den Ummantelungen herauslösen, aus den Plastedosen herausschütten: Sieben zur Grundversorgung, etliche als Zusatznahrung – die nichts bewirken, weder gegen die Arthroseschmerzen noch fürs Abnehmen, und doch bestelle ich immer wieder neue, wenn eine neue Anpreisung mir ins Haus kommt. Und sie kommen massenweise.
Gerd liest im »Berliner Blatt«, daß in diesem Jahr schon dreizehn Fahrradfahrer durch rechts abbiegende Autos getötet wurden. Es ist sein Alptraum. Außerdem: Berlin sei die Stadt, in der die meisten
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