Ein Tag im Maerz
Mutter, deine Großmutter, sie hieß Elaine, sagte, wir stehen das zusammen schon durch. Die Monate vergingen so schnell, und ich hatte solche Angst, Rachel. Ich glaubte nicht, dass ich mich so um dich kümmern könnte, wie du es verdienst, weißt du, was ich meine? Und ich hatte recht. Sieh dich nur an.« Als sie sich wieder der schönen jungen Frau zuwandte, die ihr gegenübersaß, strömten ihr die Tränen die Wangen hinunter. »Glaubst du wirklich, du wärst da, wo du jetzt bist, wenn ich dich aufgezogen hätte?«
Rachel wusste nicht, was sie sagen sollte. Diese Gedanken hatte sie oft im Kopf hin- und hergewälzt. Verdankte sie es ihrer Erziehung und der unerschütterlichen Entschlossenheit ihrer Eltern, dass ihr gelungen war, was sie zu erreichen versucht hatte? Oder wäre sie auf jeden Fall entdeckt worden, während sie still auf dem Balkon einer dieser Wohnungen vor sich hin tanzte, von einem Balletttalentscout vielleicht, der mit dem Wagen auf der Straße liegengeblieben war und nur ein Telefon suchte? Sehr wahrscheinlich erschien es nicht gerade, doch Rachel wusste, dass alles Denkbare auch möglich war. Sie fragte sich flüchtig, von welchen Faktoren die Lebenswege bestimmt wurden.
»Darauf habe ich keine Antwort, Lisa. Claire sieht wunderschön aus, und ich denke, für sie besteht Hoffnung«, sagte sie mit einem Blick auf das kleine Mädchen, das sie hätte sein können und das sich jetzt ein Stück Schokoladenkuchen ins pausbäckige Gesicht schob.
Rachel glaubte wirklich, dass Hoffnung für sie bestand. Auf der Welt gab es viele Menschen, die sich aus der Umgebung, in der sie aufwuchsen, befreit hatten. Menschen, die die Barrieren beiseitegeschoben und einen Weg genommen hatten, mit dem niemand gerechnet hätte.
»Als du zur Welt gekommen warst, entschieden Mum und ich, dich von einer Familie adoptieren zu lassen, wo du ein besseres Leben hättest, und so ist es ja auch gekommen«, sagte Lisa. Sie wirkte froh und zugleich ganz offensichtlich verletzt. »Wir haben damals echt den Kitt aus den Fenstern gefressen, und mir geht’s immer noch nicht viel besser. Seit der Vater der Kleinen mich verlassen hat, stecke ich bis zum Hals in Schulden«, sagte sie mit einer Handbewegung zu den Papieren und verzog leicht das Gesicht. »Die Entscheidung war aber nicht leicht, und ich habe oft an dich gedacht. Und ich war ganz schön nervös, dass du hier aufkreuzen könntest, denn mir ist das alles peinlich.«
Rachel ging nicht darauf ein, denn darauf ließ sich nur schlecht eine Antwort geben.
»Wie hast du eigentlich herausgefunden, dass du adoptiert wurdest?«, fragte Lisa.
Rachel senkte den Blick. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
26
Sie war schon zu weit gegangen.
Montag, 8. Juni 2009
Hammersmith, West-London
9 Uhr 30
Nora schniefte schon wieder. Nora schniefte ständig.
Bryony ging es fürchterlich auf die Nerven. Sie wusste, dass das arme Ding nichts dafür konnte. Sie hatte »Dauerschnupfen«, wie sie es nannte. Sie hatte 365 Tage im Jahr die Nase zu. Doch da sie am Schreibtisch gegenüber von Bryonys Platz saß und alle zwanzig Sekunden lang laut, durchdringend und feucht die Nase hochzog, brachte sie Bryonys Blut zum Kochen.
Bryony blickte auf ihren Bildschirm und ermahnte sich, nicht so ein Miststück zu sein. In letzter Zeit war sie ein echter Albtraum, gestand sie sich ein, während sie den Mauszeiger beobachtete, der träge über die Icons auf ihrem Desktop strich. Von ihrer Mutter hatte sie seit »dem Tag« erstaunlich viel Rückhalt bekommen, doch selbst sie hatte Bryonys Stimmungsschwankungen allmählich satt. Ihre Freundinnen gaben sich alle Mühe, damit klarzukommen, und hatten Bryony zu einer Tour durch die Clubs überredet, eine Unternehmung, zu der normalerweise sie die anderen zusammentrommelte. Sie hätten jedoch nicht stärker danebenliegen können als mit der Vermutung, dass es ihr an einem Abend des wodkaseligen Vergessens besser gehen würde. Der Versuch hatte damit geendet, dass Bryony sich aufder Toilette des ersten Clubs, in den sie gegangen waren, zwei Stunden lang die Augen ausgeheult hatte.
»Also … wo war ich … ach ja, die Biobauernkampagne«, flüsterte Bryony vor sich hin, wählte ein Verzeichnis aus und doppelklickte es.
SCHNIEF.
Geht das schon wieder los. Schniefschniffdischneuf, dachte sie. »Na los schon, Bryony, konzentrier dich … Der Plan für die Werbeaktionen im Frühjahr 2010 muss hier doch irgendwo sein. Warum finde ich ihn nicht?«,
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