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Ein Tag im Maerz

Ein Tag im Maerz

Titel: Ein Tag im Maerz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jessica Thompson
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Frau klein und plump und hatte Ringe unter den Augen, die Geschichten von schlaflosen Nächten, von Stress und Sorge erzählten. Ihr schulterlanges blondes Haar war kraus und ungekämmt und erinnerte an vertrocknetes Gras. An Schilf. Spliss. In der Hand hielt sie eine traurig aussehende Selbstgedrehte. Ihre Finger verrieten durch gelbstichige Haut und Nägel die langjährige Kettenraucherin, die Zähne bestätigten den Eindruck.
    Rachel starrte die Frau an, nahm ihre Augen, ihre Nase, ihre Lippen auf und fragte sich, ob vielleicht irgendwo ein Irrtum begangen wurde. Ihr blieben nur Sekunden, um die Entscheidungzu treffen, ob sie noch herausfinden wollte, inwiefern sie mehr gemeinsam hatten als das Blut in ihren Adern. Sie entdeckte nichts im Gesicht der Frau, das an ihr eigenes erinnerte. Außer den Augen. Die sahen aus, als blickte sie in einen Spiegel.
    Rachel überfiel eine tiefe Enttäuschung, und sie durchfuhr eine Kälte, als hätte man sie in einen Kübel mit kaltem Wasser gedrückt.
    »Hör zu, mein Schatz, ich mach keine Haustürgeschäfte, klar?«, sagte die Frau mürrisch und griff nach dem Türrahmen. Eine große Speckrolle wabbelte an der Unterseite ihres Oberarms. Das pinke T-Shirt hing ihr um den Bauch und stand ihr überhaupt nicht.
    »Nein, Moment«, sagte Rachel impulsiv und schob den Fuß vor, damit sie notfalls die Tür offen hielt. Im Fernsehen machen sie das dauernd, dachte sie flüchtig. In diesem Moment erschien es jedoch unpassend: an dem Tag, an dem sie ihre Mutter kennenlernte.
    Die Frau zog die Tür ein Stück weiter auf. Das Gesicht ihrer Besucherin konnte sie nicht erkennen, weil es in Dunkelheit gehüllt war; das Licht im Flur machte einen klaren Blick unmöglich. Ihr eigenes Gesicht war zu einem Ausdruck misstrauischer Ablehnung verzogen.
    Plötzlich kam aus dem Zimmer hinter ihr ein Kleinkind zu ihren Beinen gerannt und musterte zwischen ihnen hindurch die fremde junge Frau. Das Kind, ein Mädchen, sah traurig und schmollend aus und hielt einen riesigen gelben Baustein in der Hand. Rachel überfiel eine tiefe Verwirrung. Wer war dieses kleine Mädchen? Konnte es eine Schwester sein, die sie nie kennengelernt hatte, oder passte ihre Mutter nur auf die Kleine auf?
    Auch die Frau musterte Rachel, soweit sie sie erkennenkonnte: eine große, schlanke Gestalt mit klassischen Proportionen in enger Jeans und einem langen grauen Cardigan.
    Rachel begegnete Lisas Blick und schämte sich plötzlich beinahe für ihre teuren Stiefel aus echtem Leder, die sechshundert Pfund gekostet hatten.
    »Tut mir leid, Schätzchen, aber du musst mir schon ’n bisschen mehr sagen.« Lisa klemmte sich die Zigarette zwischen die Lippen, beugte sich hinunter, nahm die pummligen Händchen der Kleinen und drückte sie sanft.
    »Du bist Lisa, nehme ich an?«, fragte Rachel. Ihr war übel, und mit einem Mal fühlte sie sich auch noch schuldig. Ritas Gesicht zuckte ihr vor den Augen auf, und sie hätte sie in diesem Moment am liebsten angerufen, um ihr alles zu erzählen. Aber dazu war es jetzt zu spät.
    »Ja, das bin ich«, sagte Lisa. Als sie begriff, wer vor ihr stand, rutschte ihr das Herz in den Magen.
    »Ich bin Rachel.« Sie trat vor in einen Fleck Tageslicht, der von einem Loch im Dach des Balkons einen Stock höher fiel.
    Plötzlich erkannte Lisa sie.
    Eine unbedeutendere Prominente. Eine Balletttänzerin. Ihre Tochter.
    Lisa erbleichte und ließ das kleine Mädchen los. Sie nahm die Zigarette aus dem Mund.
    Rachel war sich nicht sicher, ob ihre Miene Freude oder Entsetzen bedeutete.
    »Na, dann komm mal lieber rein, was?« Lisa lächelte matt und öffnete die grüne, rissige Tür für die Tochter, der sie vorher noch nie begegnet war.
    Rachel fragte sich, ob sie wieder gehen sollte. Wieder wegrennen. Ein warmer Empfang war das nicht. Er entsprach nicht den Bildern in ihrem Kopf von tränenreichen Umarmungen und dem Beginn einer wunderbaren Beziehung. Doch sie wusste,dass sie es tun musste; die Neugierde hatte sie schließlich bei lebendigem Leib zerfressen.
    Hinter der Tür lag eine dunkle Wohnung voll Zigarettenrauch; ein kleiner, magnolienfarben gestrichener Korridor öffnete sich in einen Raum, der offenbar ein Wohnzimmer sein sollte und mit Möbeln vollgestopft war, die nicht zusammenpassten. Die Kanten des geblümten Sofas waren ausgefranst, und an einer Ecke quoll Füllung hervor, wo die Naht unter dem Gewicht der Jahre nachgegeben hatte. Der Anblick erinnerte Rachel an Lisas Gesicht, und das machte

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