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Ein Tag ohne Zufall

Ein Tag ohne Zufall

Titel: Ein Tag ohne Zufall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pearson Mary E.
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ist genauso kühl und weich wie früher, ich bohre die Zehen hinein. Bevor ich endgültig abgeschoben wurde, hat mich Tante Edie bei ihren kurzen Besuchen hierher mitgenommen. Natürlich war Mr Anwalter auch mit von der Partie. Tante Edie galt nicht als vertrauenswürdig. Das habe ich ihn jedenfalls am Telefon sagen hören … vielleicht zu meinen Eltern, die wieder mal auf einer ihrer Vergnügungsreisen waren. Mr Anwalter sprach leise und merkte nicht, dass ich zuhörte. Er sagte, Tante Edie wäre spontan und unberechenbar, man müsse sie im Auge behalten. Also ich habe sie immer als sehr vernünftig erlebt, sogar die knallroten Haare hatte sie bei ihren Besuchen zu einem braven Knoten zusammengesteckt. Wenn sie mich besuchen kam, hielt Mr Anwalter zwar diskret Abstand, aber er blieb immer in der Nähe.
    Tante Edie setzte sich gern mit mir auf den weißen Zaun, was eine ziemlich wacklige Angelegenheit war, und wir taten so, als wären wir beide jemand anders in einem anderen Land oder so. Tante Edie redet für zwei, was auch ganz gut war, denn damals sprach ich noch nicht, aber ich hörte gut zu, merkte mir jedes Wort. Wir stellten uns vor, ich sei eine im Turm eingesperrte Prinzessin, ein Cowgirl auf einem Pferd oder eine Trapezkünstlerin im Zirkus. Und wenn ich allein war, stellte ich mir oft vor, dass ich vom Trapez stürzte und mir alle Knochen brach, so dass mir nicht mehr zu helfen war. Tja, man konnte mir schon damals nichts vormachen.
    Mira entdeckt einen Springbrunnen, und Seth erwidert irgendwas. Er kramt ein bisschen Kleingeld raus und gibt es ihr. Er überlässt ihr auch Luckys Leine. Er sagt etwas zu Aidan: »Na los. Nun geht schon …« oder so ähnlich. Andere Geräusche dringen in mein Bewusstsein. Fernes Kinderlachen. Musik. Und Tante Edie, wie sie lacht und erzählt … Aber sie passt auf, dass sie nicht zu laut lacht, sonst wird Mr Anwalter hellhörig.
    »Des?«
    Seth und ich sind allein. Als er mich so ansieht, hat er zwei steile Falten zwischen den Augenbrauen. Seit wann hat er die? »Wollen wir uns irgendwo hinsetzen?«, fragt er so überdeutlich, als wäre ich ein kleines Kind, das noch nicht richtig sprechen kann.
    Ich schaue mich um. »Da drüben vielleicht?« Ich deute auf den weißen Zaun am See.
     
    Seth lehnt sich prüfend auf den Zaun, um festzustellen, ob er unser Gewicht aushält. »Der hält«, sage ich. Tante Edies Gewicht hat der Zaun auch ausgehalten. Wir setzen uns oben auf die Querlatten und halten uns jeder mit einer Hand an einem Pfosten fest. Die Füße stellen wir auf die untere Querlatte. Wir schauen auf den See. Vom Wasser weht eine Brise herüber, ganz leicht nur, aber sie erzeugt in den Baumkronen über unseren Köpfen eine fast unhörbare Musik, indem sie Zweige und Blätter wie Saiten anzupft.
    »Schön hier«, sagt Seth.
    »Findest du?«, entgegne ich achselzuckend.
    Er schüttelt den Kopf. »Wieso machst du das?«
    »Was denn?«
    »Wieso tust du immer so gleichgültig? Es ist okay, etwas schön zu finden, auch wenn es nur ein See ist. Du kriegst keine schlechte Note, wenn du auch mal zugibst, dass du etwas schön findest.«
    Ich schaue weg. Seufzend sage ich: »Der See ist schön.«
    »Wann warst du zuletzt hier?«
    »Da war ich acht. Ich war mit meiner Tante hier.«
    »Das ist lange her.«
    »Ziemlich.«
    »Willst du drüber reden?«
    Sein auffordernder Unterton entgeht mir nicht. Er meint nicht: Willst du drüber reden? Er meint: Willst du nicht endlich auspacken?
    »Ich habe schon so oft drüber geredet, dass ich es selber nicht mehr hören kann.«
    Seth ächzt genervt. Denkt er, ich kriege das nicht mit?
    Ich drehe mich zu ihm um. »Jedes Mal, wenn ich in ein neues Internat gekommen bin, musste ich als Erstes zum Psychologen, der mich haarklein analysieren und mit mir über alles reden wollte. Hat aber nie irgendwas gebracht.«
    »Kommt drauf an. Mir hat es geholfen. Reden hilft mir eigentlich immer.«
    »Zum Beispiel, als dich der Direktor zum Abfalldienst verdonnert hat. Da hat dir reden unheimlich geholfen.«
    Er grinst. »Eins zu null für dich.«
    Wir sitzen auf dem Zaun, schauen über den See, und ein orangefarbener Schmetterling flattert an mir vorbei. Ich strecke die Hand aus, und der Schmetterling setzt sich auf meinen Finger, kitzelt mich mit den langen, zerbrechlich dünnen Beinchen. Gebannt beobachte ich das leise Beben seiner Flügel. Eine ganz beiläufige Handlung … und das Leben kann eine andere Wendung nehmen.
    »Was für ein vielseitig

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