Ein Tag ohne Zufall
den Kopf ab und sagt grimmig, aber mit schwankender Stimme: »Egal. War blöd von mir. Du verstehst mich sowieso nicht.«
Ich bin sprachlos. Sie hat recht. Ich habe sie noch nie verstanden. Habe es nie versucht. Ich lege ihr die Hand auf die Schulter, aber sie schüttelt sie ab.
»Lass mich. Ich reg mich auch wieder ab. Ich komme gleich.« Sie geht bis zur Ecke. Von hinten sehe ich, dass ihre Schultern beben.
»Ich hab Mira noch nie so sauer gesehen.«
Ich drehe mich um. Seth steht in der Ladentür. »Vielleicht ist heute doch nicht alles, wie es sein soll«, setzt er hinzu.
Ich blicke auf meine Füße. Auch die Wildlederschuhe gefallen mir irgendwie gar nicht mehr so gut. »Doch«, sage ich. »Ich hab gekriegt, was ich verdient habe. Mira war immer nur nett zu mir, und statt genauso nett zu ihr zu sein, habe ich mich über sie lustig gemacht.«
Seth kommt her, schaut erst zu Mira rüber und sieht dann wieder mich an. »
Mira
hat aber noch nicht gekriegt, was sie verdient. Wolltest du nicht, dass es heute mal gerecht zugeht? Also.«
Aber wie soll ich meine Ungerechtigkeit wiedergutmachen? Mira ist stinksauer auf mich. Und barfuß.
Barfuß.
Mein Blick wandert von Seth zu der barfüßigen Mira. »Okay.«
23
Als wir aus dem Laden kommen, warten Aidan und Seth schon draußen. Aidan steckt zwei Finger in den Mund und stößt einen langgezogenen Pfiff aus, worauf Mira eine Modelpose einnimmt. Ich bin immer noch ganz fasziniert von den beiden. Wir haben das Internat erst vor ein paar Stunden verlassen, und schon haben sich ihre Hemmungen in Luft aufgelöst. Ein Aidan, der auf den Fingern pfeift?
»Sieht gut aus«, sagt Seth.
»Finde ich auch«, pflichte ich ihm bei. »Du hattest ganz recht mit deiner Wahl, Mira – die Schuhe sind genau richtig.« Was nicht gelogen ist. Auf einmal sehe ich die Schuhe mit ganz anderen Augen. Ich sehe die ganze Mira mit anderen Augen. Ich kann jetzt erkennen, dass sich hinter ihrer munteren Art noch etwas anderes verbirgt. Mitschülerinnen haben sich mal in der Cafeteria darüber unterhalten, dass Miras Eltern geschieden sind und um ihre Tochter einen langen, erbitterten Sorgerechtsstreit geführt haben. Ob sie damals angefangen hat, sich hinter einer Fassade zu verstecken? Damals, als sie sich nicht für einen Elternteil entscheiden wollte, weil sie beide gleich liebhatte? Warum bin ich nicht schon eher darauf gekommen?
»Meine Größe war nämlich sehr wohl noch im Lager!«, verkündet Mira. »Bloß falsch eingeräumt. Das kommt bei Sonderangeboten öfter vor, stimmt’s, Des?«
»Stimmt.«
Mira überreicht Aidan ihre Halbschuhe, und er lässt sie in die Tüte fallen, die er sich im Laden für unsere alten Schuhe hat geben lassen. »Ihr hättet Des mal hören sollen!«
»Wir haben Des gehört, Mira. Wir waren auch im Laden.«
Mira hat nur mitgekriegt, wie ich noch mal mit dem Verkäufer geredet habe, aber nicht, wie ich ihm einen Hundertdollarschein zugesteckt habe. Mehr Geld als jede Provision, außerdem war mir klar, dass er sich nicht gern bei einer Lüge erwischen lassen würde. Aber für hundert Dollar Trinkgeld lässt sich jeder Mensch eine phantasievolle Ausrede einfallen. Außerdem habe ich selber Mira genauso gekränkt wie der Verkäufer, da ist es nur gerecht, dass ich dafür bezahle. Mein Schuldenkonto wächst stetig.
Mira führt ihre Schuhe vor, dreht sich, posiert, späht dabei immer wieder auf ihre Füße. »Der Typ hat gesagt, es wäre das allerletzte Paar. Anscheinend wurden sie für eine andere Kundin reserviert und weggestellt. Aber er meinte, die Frau holt sie offenbar doch nicht ab.« Sie schielt zu mir rüber. Ich bin darauf bedacht, ausgleichend zu wirken, glättend, dafür zu sorgen, dass alle zu ihrem Recht kommen, dass alle glücklich und zufrieden sind, so wie Mira es im Internat macht. Dazu gehört auch, dass ich mir selbst verzeihe. Zwanzig Minuten hat es gedauert, dann hatte sich Mira wieder berappelt. Das hätte sie übrigens auch ohne die Schuhe gekonnt. Mira ist nicht nachtragend. Sie schaut nicht lange zurück. Und wenn doch, dann so, dass wir anderen es nicht merken.
24
Nicht zurückzuschauen hat durchaus etwas für sich. Trotzdem kann ich es mir nicht abgewöhnen. Ich beschäftige mich täglich mit dem, was gewesen ist. Wie andere Leute manchmal auch.
»Wirst du denn bei uns bleiben, Destiny? Oder hast du vor, deine Welt wieder mal auf den Kopf zu stellen?« Mrs Wicket hat es als Erste so ausgedrückt. Oder lag es an ihrem Tonfall?
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