Ein Tag ohne Zufall
Vielleicht lag es einfach daran, wie mir in dem Augenblick zumute war, als sie mich das fragte, dass es so ungewohnt klang.
Wirst du bei uns bleiben?
Als ob ich ein Hotelgast wäre, den man nicht abreisen lassen will. Als ob ich selbst darüber zu entscheiden hätte und vielleicht nur die Bettwäsche nicht nach meinem Geschmack wäre.
Der Anlass, weshalb ich überhaupt in ihr Büro musste, war der, dass ich Camille Preston den Pferdeschwanz abgeschnitten hatte. Ich hatte Camille höflich ersucht, mir nicht andauernd ihre Haare ins Gesicht zu werfen. Okay, ich hatte den Pferdeschwanz nie richtig ins Gesicht bekommen, aber er flog jedes Mal an meiner Nase vorbei. Das nervte mich derart, dass ich auf die Idee kam, ihn abzuschneiden. Ist doch verständlich, oder? Und wie diese Camille immer mit ihren Haaren angab – als wären sie aus purem Gold! Ich habe noch nie jemanden so heulen gesehen. Als Buße und um zu demonstrieren, wie albern sie sich wegen einer Äußerlichkeit aufführte, säbelte ich mir selber auch die Haare ab, bis nur noch kurze, struppige Stoppeln übrig waren. Ich fegte meine schwarzen Locken in ein Spitzentaschentuch und überreichte sie Camille. Ich dachte, das Geschenk würde sie trösten und beschwichtigen, aber ich wurde bloß zu Mrs Wicket geschickt.
Natürlich hatte sich Mr Anwalter des Hauptproblems bereits angenommen. Camilles Eltern erklärten sich damit einverstanden, den unschönen Vorfall auf sich beruhen zu lassen, wenn Mr Anwalter ein Jahr lang Camilles Schulgeld überwies. Außerdem wurde ich im Klassenzimmer umgesetzt, musste in Staatsbürgerkunde nicht mehr hinter Camille und ihrer Haarpracht sitzen. Wobei der Umstand, dass ich mir selbst die Haare abgeschnitten hatte, Mrs Wicket mindestens so zu beschäftigen schien wie Camilles gekappter Pferdeschwanz.
»Und jetzt noch das!« Sie deutete kopfschüttelnd auf meine neue Frisur. »Du bist zwar schon eine ganze Weile bei uns, trotzdem hatte ich gehofft, du würdest länger bei uns bleiben als in deinen vorigen Schulen. Wenn du so zurückschaust … willst du unsere Schule wirklich wieder verlassen? Denk doch mal an früher, Destiny.«
Dazu brauchte sie mich nicht aufzufordern. Ich hatte schon von ganz allein an früher gedacht, das mache ich schließlich jeden Tag. Ich muss einfach. Aber meine Sicht der Vergangenheit hat nichts mit der von Mrs Wicket zu tun, weil ich nämlich Dinge sehe, die sonst keiner erkennen kann.
»Hörst du mir überhaupt zu, Destiny? Willst du bei uns bleiben?«
Schon wieder. Als hätte ich dabei ein Mitspracherecht. Na ja, Mrs Wicket kennt eben meine Eltern nicht. Niemand kennt meine Eltern.
»Kommt drauf an, ob mich meine Eltern lassen.«
Mrs Wicket seufzte. Ihr war klar, dass es keinen Sinn hatte, auf dieses Thema einzugehen. Und damit war die Sache erledigt. Im Rausgehen drehte ich mich noch mal um und sagte: »Übrigens … ich hab meine Schere weggeworfen. Ich kann niemandem mehr die Haare abschneiden.« Sie schmunzelte. Den Gefallen konnte ich ihr immerhin tun, wenn es ihr schon nicht egal war, ob ich die Schule verließ oder dablieb.
25
Als wir weitergehen, münden die geschäftigen Straßen auf einmal in eine weite Grünfläche, einen Stadtpark mit hohen alten Bäumen und breiten, geschwungenen Wegen. Zwischen den Bäumen glitzert ein See.
Klack-klack-klack
machen Miras Absätze auf dem Bürgersteig. Was hat sie damit gemeint, dass mein Leben die Hölle war? Ich habe ihr doch nie etwas davon erzählt. Sie irrt sich. Mein Leben war nicht die Hölle. Es war das Fegefeuer, die Vorhölle. Ein dumpfes Warten.
»Toller Park«, meint Seth. »Bist du oft hergekommen, als du klein warst?«
»Klar.« Mein Ton legt nahe, dass meine Kindheit immerhin in diesem Punkt normal verlaufen ist, dabei bin ich keineswegs sicher, dass ich diesen Park schon einmal betreten habe.
Dann sehe ich ihn. Den weißen Holzzaun am Weg um den See. Die rauen Pfosten, auf die ich als Kind geklettert bin. Der Zaun auf dem Prospekt von Hedgebrook, den mir Mr Anwalter geschickt hatte. »Klar«, sage ich noch einmal, weil ich nicht sicher bin, ob ich es das erste Mal laut gesagt habe. Ich überquere die Straße und höre, wie die anderen hinterherkommen.
»Pass auf – ein Auto!«
»Du kannst doch nicht einfach losrennen, ohne nach rechts und links zu gucken!«
»Was ist mit Mittagessen? Und mit Luckys Bällchen?«
»Kommt schon!«
Kaum stehe ich auf dem Rasen, schüttle ich meine neuen Schuhe von den Füßen. Das Gras
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