Ein Tag ohne Zufall
wo ich sitze, finde ich das gar nicht mehr so schlimm. Mir bleibt sowieso nichts anderes übrig.
Der Bootsverleiher versetzt dem Boot einen tüchtigen Tritt, Mira taucht schwungvoll ein Ruder ein und dreht uns in die richtige Richtung. Sie nimmt das andere Ruder dazu und zieht kräftig durch. Wir drei anderen sind verblüfft.
»Wo hast du das gelernt?«, will Seth wissen.
»In den Sommerferien bin ich immer bei meinen Großeltern. Die haben ein Ferienhaus am Wannapu-See, und als ich zwölf war, hat Opa mir beigebracht, wie man rudert.« Sie wirft einen prüfenden Blick über die Schulter, um festzustellen, ob die Richtung stimmt. »Das war schlau von ihm, denn als ich fünfzehn war, durfte er selber nicht mehr rudern, weil er’s mit dem Herzen hat. Aber Opa fährt immer noch gern raus, und Motorboote lehnt er wegen der Büffelkopf-Enten ab. Behauptet er jedenfalls. Dabei gibt es auf dem Wannapu-See gar nicht so viele Enten …«
Ich lausche den gleichmäßigen Ruderschlägen, dem kaum hörbaren Rascheln von Seths Hemd an meiner Schulter, Miras Geplapper, als sie sich ausführlich über die Enten am Wannapu-See verbreitet, ihrem gelegentlichen Ächzen … wie bin ich eigentlich hierhergekommen? Wer bin ich eigentlich und was habe ich mir alles versagt, nur weil ich mich so lange vor Augenblicken wie diesem gefürchtet habe, vor Berührungen, davor, mit anderen zu reden und sie an mich heranzulassen. Und ich fürchte mich immer noch davor, aber jetzt bin ich hier, es gibt kein Zurück, ich bin ausgeliefert, muss mich offenbaren, auch mit meinen Schwächen. Das ist es, was der heutige Tag gebracht hat. Ich habe keine Ahnung, ob das mein Ende ist oder ein Anfang. Vielleicht ja auch unser aller Ende. So etwas kommt vor.
Du kriegst keine schlechte Note, wenn du auch mal zugibst, dass du etwas schön findest.
Ich fürchte mich ja gar nicht vor schlechten Noten, sondern …
Ich lasse mich kaum merklich nach links kippen, als schaukelte mich das Boot dorthin. Ich spüre Seths knochigen Ellbogen, seine Wärme, sein Arm drückt sich an meinen, der ohnehin kaum vorhandene Abstand zwischen uns geht endgültig verloren.
Wir gleiten durchs Wasser, und die Schwäne, vor denen uns der Bootsverleiher gewarnt hatte, schließen sich uns an, schwimmen zu beiden Seiten des Bootes wie ein Geleitschutz. Sie sind groß und pechschwarz, eigentlich zum Fürchten, aber sie verhalten sich nicht so. Sie schwimmen neben uns her wie schwarze Schutzengel, halten nach Gefahren Ausschau, schlagen uns in ihren stummen Bann.
Nach einer Weile bricht Seth flüsternd die Stille: »Der Bootsverleiher hat sich geirrt. Ich glaub, die Schwäne mögen uns.«
Aidan erwidert skeptisch: »Jedenfalls heute. Irgendwie überrascht mich das nicht.«
»Das Gleiche ging mir grade durch den Kopf, Aidan«, entgegne ich. »Was für ein außergewöhnlicher und unheilvoller Tag, dass du und ich mal denselben Gedanken haben!«
»Allerdings.«
»Ja, es ist wirklich ein ganz besonderer Tag«, sagt Mira. »Aber ab und zu muss es auch solche Tage geben.«
Sie ahnt gar nicht, wie recht sie hat.
»Du ruderst wie ein Profi, Mira«, wechsle ich rasch das Thema.
»Danke schön, Des. Ich werd’s Opa ausrichten. Auf so was ist er stolz.« Sie hört auf zu rudern, und die Schwäne schwimmen davon, betrachten ihren Auftrag anscheinend als erledigt. Wir sind in der Mitte des Sees angekommen. »Sollen wir uns einfach ein bisschen treiben lassen?«
Alle sind einverstanden. Aidan dreht sich auf seiner Bank zu mir und Seth herum, Mira steht mutig auf, um sich neben ihn zu setzen. Rudern kann sie ja, aber auf lackledernen Plateaupumps durch ein schwankendes Boot zu stöckeln, hat ihr der Opa offenbar nicht beigebracht, und sie kippt um ein Haar ins Wasser. Aidan kann sie gerade noch packen – er greift blindlings zu und erwischt ihren Hintern – und sie neben sich auf die Bank ziehen. Natürlich wird er sofort rot und nimmt die Hände wieder weg.
»’tschuldigung.«
Mira erwidert fröhlich: »Wofür denn? Du hast mir das Leben gerettet! Und meinen neuen Rock und die neuen Schuhe hast du auch gerettet! Die hätten das Wasser bestimmt nicht gut überstanden. Das vergess ich dir nie, Cowboy.« Sie streicht ihren Rock glatt, damit der Pudel nicht knittert, und gibt Aidan ein Küsschen auf die Wange. Aidan wird rot wie eine Tomate.
Eine andere Welt. Ich bin offensichtlich in einer anderen Welt. Die Mira von gestern hätte sich so was nie getraut, aber vielleicht sind wir
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