Ein Tag ohne Zufall
ja heute alle vier nicht mehr die, die wir gestern noch waren. Die Destiny, die alle andern zu kennen glauben, hätte jedenfalls niemals einen Ausflug wie diesen unternommen. In was für ein Regelwerk zwängt uns die Schule, was für Regeln unterwerfen wir uns ein Leben lang, manche davon von außen auferlegt, andere selbst gewählt, wir sind wie in ein Gefängnis gesperrt, einen Käfig … Balken, Nägel, Draht … manchmal ist es auch nur ein dünner Faden, der uns aufrecht hält, uns aber zugleich daran hindert, jemand anderer zu sein als der, der wir immer gewesen sind.
Aidan und Mira rutschen mit ihren Sitzkissen auf den Boden. Sie lehnen sich mit dem Rücken an die Bank und stützen die angezogenen Knie gegeneinander. »Los, wir spielen noch was!«, schlägt Mira vor.
Niemand widerspricht. Mira hat kampflos gewonnen. »Wir spielen ›Wahrheit oder Pflicht‹. Jeder muss eine Frage beantworten, die ihm die anderen stellen, oder er muss eine Aufgabe erfüllen, die sich die anderen ausdenken. Alle Fragen sind erlaubt! Ich fange an.«
Ich schiele kurz zu Seth hinüber, dann richte ich den Blick auf Mira. Als sich unsere Blicke treffen, wird mir ganz flau im Magen.
Frag nicht mich. Frag jemand anderen.
Mira schaut weg, und das flaue Gefühl lässt nach.
»Also, Seth«, fängt sie an, »warum hast du das gemacht? Warum hast du Mr Bingham gesagt, dass der Wind seine Glatze freigelegt hat? Wenn du nichts gesagt hättest, hätte er sich eben die ganze Stunde lang zum Affen gemacht. Warum hast du ihm Bescheid gesagt? Und dir damit nur Ärger eingehandelt?«
Das geht ja noch. Ich an ihrer Stelle hätte mir etwas Fieseres überlegt.
Seth beugt sich vor, klemmt die Hände zwischen die Knie, als müsste er überlegen, dann grinst er Mira an und schüttelt den Kopf. »Ehrlich gesagt, hab ich mich einfach verschätzt. Seit ich in Hedgebrook bin, ist mir aufgefallen, dass Bingham vor jeder Stunde und danach seine Schreibtischschublade aufzieht und reinschaut. Aus lauter Neugier habe ich auch mal heimlich einen Blick hineingeworfen. Ratet mal, was in der Schublade drin ist! Ein Spiegel! Bingham vergewissert sich regelmäßig, dass die Frisur noch sitzt. Das ist ihm anscheinend superwichtig. Nach der Sache mit dem Abfalldienst steht Bingham auf der Liste meiner Lieblingslehrer natürlich ganz unten, trotzdem …« Seth schaut in die Runde. »Das bleibt jetzt aber unter uns, klar?«
Wir nicken.
»Okay … ich geb zu, er hat mir leidgetan. Die festgesprayten Strähnen über seiner Glatze sind für ihn das Wichtigste im Leben, und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er durch die Gegend läuft und seine Haare hochstehen wie …«
»Wie ein Hahnenkamm?«
»Richtig. Darum hab ich es nach zwei Minuten nicht mehr ausgehalten und mich gemeldet. Ich hab mir gar nicht vorher überlegt, was ich sage. Und das war blöd. Als er mich aufgerufen hat, musste ich ja irgendwas sagen. Ich wollte es als Witz bringen, weil ich dachte, es ist dann nicht so peinlich für ihn, aber ich hatte nicht bedacht, dass die anderen Bingham auch nicht besonders leiden können. Natürlich war es ein gefundenes Fressen für sie, ihn auszulachen.«
»Ich hab auch mitgelacht«, gesteht Aidan verlegen. »Hab mich gar nicht wieder eingekriegt.«
Mira verzieht zerknirscht das Gesicht. »Ich leider auch.«
»Aber du warst der Einzige, der ihm gesagt hat, was los ist, und du hast versucht, nett zu sein«, sage ich.
»Manche Leute wollen eben nicht hören, was los ist, auch wenn man es ihnen nett sagt. Sie wollen nicht aus ihrer Phantasiewelt herausgerissen werden. Sie vertragen die Wahrheit nicht.«
Wohl wahr. Und bis heute fand ich das auch nicht weiter schlimm.
»Also … so war das mit Bingham. Erzählt bloß nicht rum, dass ich Mitleid mit ihm hatte. Soll auch nicht mehr vorkommen.«
»Ich schweige wie ein Grab, und die anderen bestimmt auch«, beruhigt ihn Mira.
Auch Seth rutscht jetzt von der Bank. »Auf die Art ist der Ballast besser verteilt.« Er blinzelt zu mir hoch. »Und anlehnen kann man sich außerdem.« Er zupft an meinem Rocksaum und zieht die Augenbrauen hoch. Offenbar soll ich ihn dabei unterstützen, die Ladung besser zu verteilen, auch wenn wir nicht gerade einem Sturm ausgesetzt sind. Na schön. Ich lasse mich auf den Boden gleiten. Es sitzt sich tatsächlich bequemer. Wärmer ist es auch, man ist besser vor dem inzwischen frischer gewordenen Wind geschützt. Ich sitze jetzt eng an Seth gedrängt und kann nicht
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