Ein Tag ohne Zufall
liebsten würde ich in den Fernseher reingreifen und den Präsidenten so lange schütteln, bis er die Klappe hält. Jetzt wird Aidan die nächsten zehn Jahre absolut unerträglich sein – mindestens!
»Für die Mitteilung, die ich Ihnen machen möchte, kann ich mir keinen geeigneteren Ort vorstellen als dieses mit Kiefern und Birken bewachsene Fleckchen Erde in den Bergen, wohin sich schon unzählige Amerikaner zurückgezogen haben, um Erholung an Leib und Seele zu finden. Ich möchte nämlich den Kongress ersuchen, eine Arbeitsgruppe zu bilden, die …«
Mira jubelt: »Der Präsident hat dich gemeint, Aidan!«
»Pssst!«
»Die Kosten und negativen Folgen, die unserer Gesellschaft durch überlastete, ausgebrannte Arbeitnehmer entstehen, stehen in keinem Verhältnis zu den Kosten für bezahlten Urlaub. In Europa hat man längst begriffen, dass ausgeruhte, erholte Arbeitskräfte wesentlich leistungsfähiger sind. Ganz zu schweigen von ihrem besseren Gesundheitszustand und den daraus folgenden Einsparungen …«
»Genau was ich gesagt habe! Er hat auf mich gehört! Er hat echt auf mich gehört!«
»Pssst!«
»Die bereits erwähnte Arbeitsgruppe soll einen Gesetzesentwurf vorbereiten, der einen bezahlten Mindesturlaub für alle amerikanischen Arbeitnehmer vorsieht …«
Wir sind so verdattert, dass wir die Rede ohne weitere Kommentare zu Ende anhören. Aidan hat es tatsächlich geschafft, dass sich der Kongress mit einer verbindlichen Urlaubsregelung für Arbeitnehmer befasst. Eine zufällige Begegnung. Der abwegige Einfall eines Vorschul-Sitzenbleibers. Und jetzt das.
Als sich der Präsident verabschiedet hat, brechen Seth und Mira in Jubel aus und fallen Aidan um den Hals. Aidan grinst von einem Ohr zum anderen. Dann schaut er mich an.
Ich sage: »Herzlichen Glückwunsch, Aidan.«
Sein Mund steht offen, aber es kommt kein Ton heraus.
»Du brauchst nichts zu sagen. Ich weiß schon. Manche Dinge lassen sich nicht erklären.«
Wir verlassen den Laden. Der Verkäufer lächelt unerschütterlich, scheint sich über unseren kauflosen Kurzbesuch nicht weiter zu wundern. Er nickt mir sogar zu, als ich rausgehe, und ich erwidere das Nicken verlegen. Sein abgewetzter Schlips sieht noch älter aus als die Altstadt von Langdon. Mira und Aidan gehen voraus. Mira ist immer noch ganz aus dem Häuschen, käut die Rede des Präsidenten Wort für Wort wieder. Aidan nickt eifrig, fuchtelt mit den Armen.
»Irre, was?«, sagt Seth.
»Tja, das Gesetz der großen Zahl muss wohl um eine Variante erweitert werden.«
»Nett von dir, dass du nichts gesagt hast.«
»Wozu? Aidan hat mir ja das Wort aus dem Mund genommen. Es stand ihm alles ins Gesicht geschrieben.«
Die Straße mündet in einen Park mit großer Hundeauslauffläche. »Wollen wir?«, fragt Seth.
»Warum nicht? Lucky hat sich eine kleine Erholungspause redlich verdient.« Und mir kommt eine Pause auch gelegen. Dann kann ich mich noch mal innerlich auf das einstellen, was mir bevorsteht.
Wir führen Lucky durch das Tor, setzen uns auf eine Bank, und Seth lässt Lucky von der Leine. Unser Schaf ist die Sensation. Im Nu ist Lucky von gleich drei Hunden umringt, die sich als Hütehunde gebärden. So viel Aufmerksamkeit scheint ihm zu gefallen. Er rennt umher, vollführt Luftsprünge, bockt und buckelt, treibt die drei Hunde in den Wahnsinn. Dann bleibt er mitten auf dem Gelände stehen, wo auf einem Hügelchen ein bisschen Gras wächst, und fängt seelenruhig an zu fressen, während sich die bedröpsten, hechelnden Hunde um ihn scharen. Die Hunde begreifen nicht, was sie antreibt, Lucky zu jagen. Ein uralter Trieb hat die Oberhand über ihr angezüchtetes Wohlverhalten gewonnen.
»Wie es aussieht, ist Lucky Hunde gewöhnt.«
»Vielleicht wurde seine Herde ja auch von Hunden gehütet.«
»Besonders gut haben die ihre Arbeit aber nicht gemacht.«
»Oder der schlaue Lucky hat sie ausgetrickst.«
»Genau!« Seth klingt so stolz, als hätte er Lucky eigenhändig mit der Flasche aufgezogen.
Mira verschränkt die Arme. »Hier im Park haben nicht die Hunde Lucky rumgescheucht, sondern es war umgekehrt. Offenbar kommt heute jeder mal zu seinem Recht.«
Seth schaut auf die Uhr. »Noch nicht ganz. Wir müssen uns ranhalten. Des hat noch einiges zu klären.«
Ich hole tief Luft, und die alte Destiny ist wieder da.
29
Aidan und Mira bleiben bei Lucky im Park, Seth und ich holen das Auto. Im Gehen zähle ich unwillkürlich die Fugen auf dem Bürgersteig. Ich
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