Ein Tag ohne Zufall
zähle meine Atemzüge. Zähle unsere Schritte. Überlege fieberhaft, was ich noch zählen kann, zählen muss … dann verschwimmt alles. Verliere ich jetzt endgültig den Verstand? Oder gerade das Gegenteil? Ergeben heute die unzähligen Tage, die Tränen, das Warten und Zählen endlich etwas Stimmiges? Vielleicht. Wenn ich aufpasse. Wenn ich mich nicht zu sehr ablenken lasse.
Vierzehn, fünfzehn, sechzehn …
»Aufgeregt?«
Ich höre sofort auf. »Nö. Wieso denn?«
»He …« Seth bleibt stehen und drückt meinen Arm. »Du machst das schon richtig, Des. Du wolltest, dass einen Tag lang alles ist, wie es sein soll. Dass es gerecht zugeht. Da gehört das mit deinen Eltern dazu.«
»Weiß ich, Seth, weiß ich.« Ich will mir nichts anmerken lassen, aber meine Stimme klingt so heiser und matt, als verließe mich schon jetzt alle Kraft, als müsste ich mich gleich in Luft auflösen. Seth lässt meinen Arm nicht los, und ich bin froh darüber. Wenn er mich so festhält, kann ich mich nicht in Luft auflösen, kann ich nicht verschwinden. Verschwinde ich denn? »Ist schon okay. Ich bin bloß außer Puste. Du hast längere Beine als ich. Lauf bitte ein bisschen langsamer.«
Er macht kürzere Schritte.
»Glaubst du, deine Eltern sind sauer, wenn du einfach so bei ihnen aufkreuzt?«
Meine Eltern? Sauer? Wohl kaum. »Nö. Dafür bin ich ihnen nicht wichtig genug.«
»Aber
du
bist sauer.«
»Kann schon sein. Und was schließen wir daraus? Dass ich wohl nicht so genau wie meine Eltern weiß, was ich eigentlich will.«
»Und verbittert bist du auch.«
»Findest du?« Ich setze rasch ein künstliches Grinsen auf. »Bist du denn nicht sauer, dass dich deine Eltern loswerden wollten?«
»Meine Eltern wollten mich nicht loswerden. Ich bin erst zwei Monate von zu Hause weg, außerdem wollte ich das selber. Irgendwann muss man sich doch mal von seinen Eltern abnabeln, oder? Das ist ganz normal. Das gehört zum Erwachsenwerden dazu. Was glaubst du, wie viele unserer Altersgenossen es kaum erwarten können, zu Hause auszuziehen.«
»Bloß dass ich schon im zarten Alter von sieben erwachsen werden musste.«
»Haben dich deine Eltern da schon von zu Hause weggeschickt?«
Es klingt ungläubig. Ich schaue weg und nicke. Bestimmt revidiert er jetzt seine Meinung von mir, kann nicht begreifen, weshalb ich so widerborstig bin.
»Manche Leute haben ihre Eltern echt gefressen. Das ist übrigens nicht verboten. Dazu braucht man nicht erst eine Genehmigung.«
»Gar keine schlechte Idee, so eine Genehmigung.«
»Immerhin hast du noch deine Tante. Edie heißt sie, oder?«
Tante Edie. Weil es einem Kind nicht guttut, ganz allein auf der Welt zu sein. Weil jeder jemanden braucht. »Ja, ich habe noch Tante Edie.« Sie ist die ideale Tante: verständnisvoll, lustig, eine gute Zuhörerin.
»Tante Edie war immer für mich da. So weit es ihr möglich war, weil mich meine Eltern ja von einem Internat ins nächste verfrachtet haben – und das immer weit weg von da, wo sie wohnt. Irgendwann hat sie sogar mal versucht, die Vormundschaft für mich zu bekommen. So lieb hat sie mich. Sie hat kein Geld, aber sie besitzt ein kleines Bauernhaus auf dem Land und hätte mich im Gästezimmer unterbringen können. Auf dem Land groß zu werden, mit Enten und einem Teich und so, ist schön für ein Kind. Leider wollten meine Eltern nichts davon hören. Es wäre wahrscheinlich zu peinlich gewesen. Aber Tante Edie würde mich immer noch nehmen.«
»Schade, dass ich deine Tante beim Picknick am Elterntag verpasst habe, sie ist bestimmt cool. War sie überhaupt da?«
»Klar. Aber wir haben uns nicht zu den anderen gesetzt, sondern sind spazieren gegangen. Wir sehen uns nicht so oft, und wenn doch, sind wir lieber unter uns.«
»Und warum wollte deine Tante heute kommen?«
Diese Unterhaltung läuft irgendwie aus dem Ruder. Noch ein Grund, warum man lieber für sich bleiben sollte. Warum es zu gefährlich war, das Internat zu verlassen. Der geregelte Tagesablauf dort ist auch eine Art Schutz.
»Einfach so. Um mich zu besuchen.«
»Ich finde das eigentlich gar nicht so verkehrt, dass deine Tante heute verhindert war. Sonst hättest du mich nicht vom Abfalldienst erlöst, und wir wären jetzt nicht hier. Du kannst dich bestimmt ein andermal mit ihr treffen.«
»Erlöst? So würde ich das nicht grade nennen.«
»Ich aber. Wie lange hast du das Auto eigentlich schon? Hast du es geschenkt gekriegt?«
Jetzt könnte ich es ihm sagen. Bevor ich mich
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